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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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gab Nick gleichgültig zurück und stand von der gepolsterten Bank auf. Tatsächlich war er wütend auf Katherine, die den brüchigen Frieden zwischen Mary und ihrem Vater bedrohte, aber ihm war nicht entgangen, dass Mary zu ihrer blutjungen Stiefmutter ebenso kühl und abweisend war wie umgekehrt. Und er war gewillt, der Königin eine zweite Chance zu geben, weil sein Bruder sie so hoch schätzte. Vielleicht war Katherine ja besser, als man auf den ersten Blick meinte. »Ich mache mich auf den Heimweg, Chapuys.«
    Der Gesandte nickte. »Hütet Euch vor dem Gesindel auf der Straße. Es ist riskant in diesen Zeiten, bei Dunkelheit unterwegs zu sein.«
    Nick verdrehte die Augen. »Ich werd dran denken. Nochmals danke für Eure Gabe.« Er hatte die wenigen Freunde, die er bei Hofe hatte, um Spenden für die Krippe gebeten, denn manche der größeren Kinder hatten immer noch keine neuen Schuhe. Es war ein ansehnliches Sümmchen zusammengekommen. Nick hatte gewartet, bis sein Pate betrunken war, ehe er auch ihn anbettelte, und weinselig hatte Suffolk ihm den gesamten Inhalt seiner Börse in die Hand geschüttet – über zehn Pfund. Das löste nicht nur das Schuhproblem, sondern würde auch die Lebensmittel für das kommende Jahr bezahlen.
    Unbemerkt schlüpfte Nick aus der Halle, überquerte den Hof mit dem gewaltigen Uhrenturm und betrat das Gebäude auf der anderen Seite. Die scheue Lady Claire saß im Vorraum zu Marys Gemächern. Als sie Nick kommen sah, klopfte sie an die Tür, meldete ihn an, ließ ihn eintreten und folgte ihm in den eher schlicht möblierten, dämmrigen Raum.
    »Ich wollte mich verabschieden, Hoheit«, sagte Nick und verneigte sich.
    Mary saß mit dem Rücken zur Tür an einem zierlichen Tischchen. Sie schien seine Worte gar nicht wahrgenommen zu haben. »Komm her und hilf mir«, forderte sie ihn auf. Ihre schlanke linke Hand lag auf einem aufgeschlagenen Buch, in der rechten hielt sie eine Feder über einem leeren Blatt Papier.
    Nick trat näher und sah ihr über die Schulter. »Ach, du meine Güte. Das ist Horaz. Viel zu schwer für mich, glaub mir …«
    »Oh, komm schon, streng dich ein bisschen an. Übersetz die ersten vier Zeilen, und dann sehen wir, ob du sie genauso verstehst wie ich.«
    »In Hexametern? Oder darf ich in Prosa, Hoheit?«, fragte er unterwürfig.
    »Das sind keine Hexameter, sondern alkäische Verse, du Banause.«
    »Wenn du es sagst …« Er richtete den Blick auf den lateinischen Text und las murmelnd: » Delicta maiorum inmeritus lues, Romane, donec templa refeceris aedisque labentis deorum et foeda nigro simulacra fumo . Ähm, lass mich nachdenken. Es heißt in etwa …«
    Sie sah mit einem missfälligen Stirnrunzeln zu ihm hoch. »Ja?«
    Nick musste sich vorsehen, dass er nicht nervös wurde und anfing zu stammeln wie der mittelmäßig begabte Zögling in Thomas Mores Internat, der er einst gewesen war. Er konzentrierte sich, und auf einmal erfasste er den Sinn ohne große Mühe: »Unschuldig zahlst du für die Sünden deiner Väter, Römer, bis du die Tempel wieder aufbaust, die fallenden Gotteshäuser und die … die vom schwarzen Rauch geschändeten Statuen …«
    Mary lehnte sich zurück und verschränkte mit einem zufriedenen Lächeln die Hände auf ihrem Horaz. »Wusst ich’s doch. Danke, Nick. Sinngemäß war ich zum gleichen Ergebnis gekommen. Jetzt muss ich die Übersetzung nur noch ins richtige Versmaß bringen. Das wird schwierig …«
    Nick schwante ganz und gar nichts Gutes. »Was hast du damit vor?«, fragte er misstrauisch.
    »Ich beabsichtige, meinem Vater eine englische Übersetzung von Horaz’ Oden in alkäischen Versen zu schenken. Sein Latein ist nicht mehr so gut, wie es einmal war. Er hat nicht genügend Zeit, es zu pflegen. Aber Horaz ist so eine erbauliche, erhellende Lektüre und …«
    »Wähle lieber eine andere«, fiel Nick ihr ins Wort. »Warum ausgerechnet diese? Ist es nicht die sechste Ode aus dem dritten Buch?«
    »Du bist besser, als du vorgibst …«
    »Also, warum fängst du nicht vorne an?«
    »Weil keine mir so hervorragend in unsere heutigen Zeiten zu passen scheint.«
    Nick stöhnte und rang um Geduld. »Mary, manchmal frage ich mich, ob du wirklich so weltfremd bist, oder ob du uns alle zum Narren hältst.«
    »Ich muss doch sehr bitten, Mylord«, tadelte sie ihn kühl. »Ihr vergreift Euch im Ton.«
    »Und Ihr vergreift Euch in der Ode, Hoheit«, konterte er wütend. »Wenn du dem König dieses Werk überreichst, ganz

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