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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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und wandte sich zur Tür, um die Debatte zu beenden.
    Wenig später folgte Janis den Mädchen in den rückwärtigen Teil der Kirche. Annie, eine der Älteren, war schon dabei, das Kohlebecken anzuzünden. Alle setzten sich im Kreis um die unzureichende Wärmequelle, und die Mädchen hatten ihre Wolldecken mitgebracht und wickelten sich hinein, aber trotzdem fing Edith nach kaum einer halben Stunde an zu weinen, weil ihr so kalt war. Edith war die kleinste von allen; für sie war es am schwierigsten, der Kälte zu trotzen. Annie nahm sie auf den Schoß, bis sie an der Reihe war, aus der Fibel vorzulesen. Da reichte sie Edith an ihre Sitznachbarin weiter, die das inzwischen warme Kind nur zu gerne nahm. Es war eine vertraute Routine, und es funktionierte einwandfrei.
    »Sehr schön, Annie«, lobte Janis schließlich.
    Es entsprach nicht ganz der Wahrheit. Annie hatte kein Interesse am geschriebenen Wort, hielt den Unterricht insgeheim für Zeitverschwendung und würde nie »schön« lesen lernen. Aber sie gab sich Mühe, um der Lehrerin eine Freude zu machen, und das wusste Janis zu schätzen.
    »Weiter. Du bist an der Reihe, Chrissie.«
    »Oh, Schwester Janis, könnt Ihr uns nicht lieber eine Geschichte erzählen?«, bettelte eine andere. »So wie die von Jason und den Organauten?«
    »Argonauten«, verbesserte Janis. »Und die Antwort lautet Nein. Heute Nachmittag bei der Näharbeit vielleicht, aber jetzt wird gelesen.«
    »Och, bitte, bitte, Schwester. Eine Geschichte, eine Geschichte! Bitte, Schwester, eine Geschichte!«, bettelten alle.
    Janis winkte lachend ab und war noch unschlüssig, ob sie sich überreden lassen sollte, als eine sehr viel tiefere Stimme von der Tür sich in den Chor mischte: »Au ja, Schwester Janis, eine Geschichte, eine Geschichte!«
    Ihr Kopf fuhr herum, aber sie hatte ihn längst erkannt. »Lord Waringham! Das ist ein früher Besuch.«
    »Ich weiß. Vergebt die Störung.«
    Die Mädchen standen auf und begrüßten ihn, wie man es sie gelehrt hatte.
    Er hob Mally, die kaum älter war als Edith, von ihrem Schemel, nahm selbst darauf Platz, setzte die Kleine auf sein Knie und wickelte sie in seinen pelzgefütterten Mantel. Janis beneidete Mally beinah.
    »Also?«, fragte er hartnäckig. »Denkt Ihr, wir haben eine Geschichte verdient, Schwester? Haben wir fleißig gelernt und gearbeitet?«
    Die Mädchen kicherten.
    Auch Janis musste lächeln. »Ich kann nicht beurteilen, wie es sich mit Euch verhält, Mylord, aber meine Mädchen waren vorbildlich über die Feiertage. Also gut, meinetwegen.« Sie überlegte einen Moment. »Dann erzähle ich euch die Geschichte von Odysseus, dem Listenreichen …«
    Er hing an ihren Lippen genau wie die kleine Mally auf seinem Schoß, und seine kornblumenblauen Augen funkelten belustigt, als sie ihre Erzählung ein wenig ausschmückte und gestenreich beschrieb, wie zornig Odysseus wurde, als das linke Ohr des Trojanischen Pferds zum dritten Mal abfiel, während die Griechen es vor die Tore der belagerten Stadt schoben. Waringham lächelte ihr zu, aber sie wandte den Blick ab, richtete ihn gleichsam nach innen auf die Bilder von der gewaltigen Stadtmauer und dem hölzernen Pferd, die sie dort sah. Denn es war zu gefährlich, ihn länger anzusehen.
    Mit vierzehn Jahren war Janis in Wetherby ins Kloster eingetreten – kurz nach dem Pfingstfest, da im fernen Westminster Anne Boleyn zur Königin gekrönt wurde. Janis’ Vater hatte sie nur widerwillig gehen lassen. Was in aller Welt hoffst du dort zu finden? , hatte er sie verständnislos gefragt. Gott? Dafür musst du nicht ins Kloster. Gott ist hier, er sitzt mit uns bei Tisch, er ist in jedem Fohlen, das du auf die Welt holst, und er ist ganz gewiss da draußen in den Hügeln, wenn die Heide blüht. Du musst nur mal richtig hinschauen …
    Aber Janis war nicht auf der Suche nach Gott. Was sie wollte, war ein anderes Leben als das, welches ihre Mutter geführt hatte. Ihr graute vor der Enge eines solchen Daseins. Sie wollte lernen. Am liebsten wollte sie jedes Buch lesen, das es auf der Welt gab, und alles Wissen in sich aufsaugen. Als vierzehnjähriges Mädchen hatte sie davon geträumt zu reisen – nach Paris, nach Rom und bis in die Neue Welt. Aber schon damals hatte sie natürlich gewusst, dass das für eine Frau undenkbar war, und mit den Jahren war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass es sie glücklich genug machte, die Bücher zu lesen, die die Mutter Oberin ihr besorgte – denn das waren nicht

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