Der dunkle Thron
gleich, wie schön die Verse sind, wird er argwöhnen, du wolltest Horaz’ Klage über den Verfall von Sitte und Moral auf die Reformer und die Aufhebung der Klöster übertragen. Zu Recht argwöhnen. Wozu willst du etwas so Kindisches tun?«
»Kindisch?«, brauste sie auf und kam auf die Füße. »Was fällt dir ein?«
»Ja, kindisch«, beharrte er. »Denn du würdest nichts ändern. Nichts besser machen. Das einzige, was du erreichen würdest, wäre ein neues Zerwürfnis mit dem König, der ohnehin schon die Stirn runzelt, weil du dich mit seiner neuen Königin angelegt hast.«
»Die zwei meiner Hofdamen entlassen hat! Über meinen Kopf hinweg!«
»Ja, ich weiß.« Nick versuchte, die Fassung zu bewahren, damit wenigstens einer von ihnen einen kühlen Kopf behielt. »Aber du musst zugeben, dass deine Hofdamen sich alle Mühe gegeben haben, Katherine zu verstehen zu geben, dass sie sie für ein berechnendes, ehrgeiziges Luder halten.«
»Der Schluss drängt sich irgendwie auf, oder?«
»Mary.« Nick sah sich kurz um, zog sich mit dem Fuß einen Schemel heran, setzte sich ungebeten und ergriff ihre Linke. »Sie ist noch so jung. Aber ihr Onkel Norfolk wird seinen Einfluss auf sie nutzen, um die Reform aufzuhalten, vielleicht sogar umzukehren. Katherine könnte durchaus noch eine Königin in deinem Sinne werden. Aber du musst Geduld haben. Es schadet deinen Absichten nur, wenn du den König unnötig gegen dich aufbringst.«
Sie hörte ihm zu, aber ihr ohnehin kleiner Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Schließlich befreite sie ihre Hand und antwortete leise: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich es verabscheue, immer nur zahm und untätig zu sein und mit töchterlicher Duldsamkeit zuzuschauen, wie mein Vater die Klöster ausplündert und dieses Land zu einem Ort der Gottlosigkeit macht.«
»Doch, Mary. Das kann ich mir ohne Mühe vorstellen. Aber als Märtyrerin wirst du weder England noch dem Papst etwas nützen. Wenn du dich beiden verpflichtet fühlst, nimm dich zusammen und warte auf bessere Zeiten.«
»Es ist ungeheuerlich, wie du mit mir redest«, beklagte sie, aber ihr Zorn war verraucht, und ein Lächeln lauerte in den Mundwinkeln.
Nick erhob sich und machte einen artigen Diener. »Dann besteht wohl wenig Hoffnung, dass du mir einen Souvereign für die Krippe spendest?«
»Einen Souvereign?«, wiederholte sie entrüstet. »Mir war nicht klar, dass die neuen Schuhe für die Waisenkinder mit Edelsteinen und Perlenstaub besetzt sein sollen wie die meiner gerissenen kleinen Stiefmutter …«
Lady Claires halb unterdrücktes Kichern kam aus der Fensternische.
Mary sah mit verengten Augen in ihre Richtung, während sie ihre Börse aufschnürte, ein Goldstück herausholte und es Nick reichte. »Ich hatte Eure Anwesenheit vergessen, Lady Claire. Ich vertraue auf Eure Diskretion.«
Das verhuschte Geschöpf trat aus dem Schatten und knickste. »Das könnt Ihr, Mylady«, beteuerte sie und ließ ein paar Münzen in Nicks Hand klimpern.
Er verneigte sich vor den beiden noblen Spenderinnen. »Gott segne Euch, Ladys. Wann kehrt Ihr nach Hatfield zurück?«
»Nach dem Dreikönigsfest«, antwortete Mary. »Ich kann es kaum erwarten, wenn ich ehrlich sein soll. Dort werde ich auch viel mehr Zeit für meine Horaz-Übersetzung haben«, fügte sie mit einem unschuldigen Lächeln hinzu.
»Ich komme, sobald ich kann, um mich von Euren Fortschritten zu überzeugen und das Ergebnis Eurer Mühen ins Feuer zu werfen, Hoheit«, stellte er in Aussicht.
London, Januar 1541
Es hatte wieder geschneit, erkannte Janis, als sie beim ersten zartrosa Tageslicht aus dem Fenster schaute. Der Wind hatte die ganze Nacht an den bleigefassten Scheiben gerüttelt, und sie hatte schlecht geschlafen. Aber grundsätzlich hatte sie nichts gegen Schnee und Winterkälte. Wer wie sie sein ganzes Leben im Norden verbracht hatte, war daran gewöhnt, vor allem an eisige Winde. Und der Frost schien die Pest endgültig aus der Stadt gejagt zu haben, die während des unnatürlich heißen, trockenen Sommers ausgebrochen war.
Janis legte ein wollenes Tuch um die Schultern, nahm die große Handglocke vom Tisch und verließ die kleine Kammer neben dem Priorzimmer, die sie beherbergte.
Auf dem Flur schwang sie die Glocke. »Allen Schlafmützen von London einen guten Morgen!«, rief sie und zog den Riegel zurück, der den Schlafsaal der Jungen versperrte. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, deren Notwendigkeit für alle
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