Der dunkle Thron
Selbstmörders, denn er wurde wie ein Tierkadaver verscharrt.
Viele Menschen glaubten obendrein, dass diese Schandtat Unglück über die Gerechten bringe oder dass die rastlosen Geister der Toten zurückkehrten, um die Lebenden heimzusuchen. Deshalb war es vielerorts üblich, den Leichnam eines Selbstmörders noch einmal aufzuhängen oder zu enthaupten, um Gott zu zeigen, dass die Gemeinschaft sich von ihm lossagte. Nick wusste, er hätte streng genommen nach dem Sheriff von Kent schicken müssen, damit der entscheide, wie mit Raymond zu verfahren sei.
Aber er dachte nicht daran.
Er verbrachte die Nacht mit dem Leichnam seines Bruders im Pferdestall, hielt ihm eine einsame Totenwache und hatte reichlich Zeit, ihn zu beschimpfen, zu beweinen und sich schließlich zu verabschieden.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang holte er Raymonds Pferd, legte den Leichnam auf dessen Rücken und führte es aus der Burg und in den Wald von Waringham, denn ein Eselsbegräbnis musste möglichst weit weg von menschlichen Siedlungen und während der Nacht stattfinden. Der halbvolle Mond, der dann und wann hinter den eilig dahinjagenden Wolken zum Vorschein kam, beleuchtete den Weg, aber Nick hätte ihn vermutlich auch in völliger Finsternis gefunden, denn die kleine Lichtung am Tain, zu der er seinen Bruder brachte, war seine und Lauras Zuflucht während ihrer Kindheit gewesen. Im Sommer war sie ein verzauberter Ort, wo man im duftenden Gras liegen, das Licht und Schattenspiel der Sonne auf dem Laub beobachten und dem Murmeln des Flüsschens lauschen konnte. In einer unwirtlichen Oktobernacht war die Lichtung am Fluss nur irgendein Stück Wald, und dafür war Nick dankbar.
Er legte Raymond in Ufernähe ins nasse Gras, griff zu der Schaufel, die er mitgebracht hatte, und begann zu graben. Ganz bewusst und mit einem eigentümlichen Gefühl von Genugtuung zerstörte er den einzigen Ort, wo Laura und er sich vor Sumpfhexe sicher gefühlt und an den sie den kleinen Raymond nie mitgenommen hatten. Er riss das federnde Gras mit der Schaufel auf und verwandelte es in eine Schlammwüste.
Als er tief genug gegraben hatte, packte er den Leichnam unter den Achseln und schleifte ihn zur Grube. Mit dem Gesicht nach unten, wie es vorgeschrieben war, legte er ihn hinein. Dann verließ er die Lichtung, ging ein paar Dutzend Schritte nach links, wo ein Brombeerdickicht lag, und schnitt mit dem Dolch einen Armvoll Dornenzweige ab. Sie zerstachen ihm Hände und Arme, als er sie zurücktrug, aber er merkte nichts davon. Ein letztes Mal schaute Nick auf seinen toten Bruder hinab, und er musste den Impuls niederringen, sich einfach zu ihm zu legen, sich nach und nach von herabrinnendem Schlamm und fallenden Blättern bedecken zu lassen und gemeinsam mit ihm zu vergehen. Stattdessen breitete er die Dornen über Raymond aus, damit der nicht als Wiedergänger aus dem Grab steigen konnte, und fing sofort an, die Grube zuzuschaufeln. Gerade als er fertig war, färbte der Himmel sich im Osten perlgrau.
London, November 1541
»Er ist maßlos in seiner Trauer«, berichtete John bedrückt. »Ausgerechnet Nick, der Mäßigung in jeder Lebenslage doch für die größte aller Tugenden hält. Aber er isst nicht. Er schläft nicht. Er … richtet sich zugrunde, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Lord Waringhams Steward hatte nach Doktor Harrison geschickt, wusste Janis, weil er in Sorge um Nick war, aber Trauer war eben etwas anderes als ein gebrochenes Bein oder Kopfweh. John kannte kein Heilmittel dafür.
Es war einen Moment still in der Halle mit den vielen Büchern, und sie hörten die Glocken der umliegenden Kirchen läuten. Allerheiligen. Der Feiertag, da man der Toten gedachte. Und Janis wusste, welche Bürde das Gedenken sein konnte.
»Philipp, lass uns zurück nach Waringham reiten«, sagte Laura schließlich. »Ich will nicht noch einen Bruder verlieren.« Auch sie trauerte um Raymond, war fassungslos und ratlos angesichts seiner furchtbaren Tat, aber es hatte sie nicht so völlig aus der Bahn geworfen wie Nick, hatte Janis beobachtet. Vielleicht, weil Laura Trost in ihrer Familie fand.
Philipp Durham sah seine Frau skeptisch an. »Ich glaube, er will seine Ruhe. Außerdem kann ich jetzt unmöglich aus London fort. Der neue Lord Mayor wäre kaum erbaut, wenn ich gleich bei seiner ersten Sitzung im Stadtrat fehle …«
»Du willst dich nur drücken«, argwöhnte Laura.
»Komm schon, du weißt genau, dass das nicht stimmt«, protestierte er.
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