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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Raymond war nicht dort.
    »Was kann das zu bedeuten haben?«, fragte Nick beunruhigt.
    »Lass uns nachsehen, ob sein Pferd noch im Stall steht«, schlug der Geistliche vor.
    Dankbar für den praktischen Vorschlag folgte Nick ihm in den Burghof. Madog ging voraus, weil er die Laterne trug. Es waren nur wenige Schritte bis zum Stallgebäude. Simon öffnete das hölzerne Tor. Madog und Nick traten über die Schwelle, und als das Licht der Laterne das Dunkel zurückdrängte, entdeckten sie Raymond. Er hing an einem der stabilen Dachbalken, die Füße eine Elle über dem Boden, vor sich eine umgestürzte Holzkiste. Er pendelte sacht, aber ansonsten war sein Leib vollkommen still.
    Mit einem heiseren Schrei stürzte Nick zu seinem Bruder, umklammerte seine Oberschenkel und hievte ihn in die Höhe. Madog drückte Simon die Laterne in die Hand und stieg auf die Holzkiste, während er den Dolch schon aus der Scheide zog. Die Klinge war sehr scharf, der dünne Strick mit einem Streich durchtrennt. Raymonds Oberkörper sackte herab, Nick ließ seinen Bruder ins Stroh gleiten, fiel neben ihm auf die Knie und begann, an der Schlinge zu zerren. Sie saß so eng, dass er nicht einmal einen Finger zwischen Strick und Hals bekam.
    Nick streckte Madog blind die Hand entgegen. Es war eine flehende Geste. »Gib das Messer …«
    »Nick …«
    »Her damit, verflucht!«
    »Nick. Es ist zu spät.«
    Nick schüttelte den Kopf und schluchzte heiser. Er hatte Raymond immer noch nicht ins Gesicht gesehen, oder falls doch, hatte er jedenfalls nicht wahrgenommen, was er dort sah. Blinzelnd riss er Madog den Dolch aus den erschlafften Fingern, durchtrennte den Strick, der einen blutigen Ring um den Hals des Jungen gezogen hatte, und dann packte er Raymond und zog ihn an sich und wiegte ihn. »Ray … Ray, atme … Atme doch …«
    Mit zugekniffenen Augen legte er die Hand auf Raymonds linke Brust und spürte nichts, aber erst als er Simon in seinem Rücken murmeln hörte: »De profundis clamavi ad te, Domine, exaudi vocem meam«, begriff er, dass sein Bruder tot war.
    Er lockerte seine Umklammerung, bettete Raymonds Kopf auf seinen Oberschenkel, sah noch einen Moment in die weit aufgerissenen, blauen Augen und schloss dann die Lider. Er schob die zerbissene Zunge zurück hinter die Zähne und drückte den Unterkiefer hoch, um den Mund zu schließen, und er staunte darüber, wie warm und lebendig sich alles noch anfühlte. Fast hätte er sich einreden können, sein Bruder schlafe nur, hätte Simon in seinem Rücken nicht diesen verfluchten Psalm gebetet.
    »Hör auf«, knurrte Nick über die Schulter.
    Der Priester verstummte einen Moment. Dann sagte er behutsam: »Nick, lass mich …«
    »Verschwinde. Du kannst nichts für ihn tun, oder?«
    Simon antwortete nicht sofort; vielleicht wechselte er einen kummervollen Blick mit Madog.
    »Simon?«, hakte Nick nach.
    »Du kennst die Antwort«, gab der Priester zurück. »Nein, ich kann nichts tun.«
    »Dann sei so gut und geh.«
    Den Blick unverwandt auf das Gesicht seines toten Bruders gerichtet, hörte er die sich leise entfernenden Schritte.
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte Madog an seiner rechten Seite und legte ihm zaghaft die Hand auf die Schulter.
    »Nein.« Nick schüttelte die Hand ab.
    Madog stellte das Licht neben ihm auf den Boden und ging hinaus. Die veränderte Position der Laterne ließ Raymonds Gesicht bleich und wächsern erscheinen, und mit einem Mal entdeckte Nick einen Papierzipfel, der aus dem Wams des Jungen lugte. Er hob eine Hand, die ihm bleischwer vorkam, und zog den Bogen heraus. Als er ihn auseinanderfaltete, las er in der sicheren, geschwungenen Handschrift, die er seinen Bruder gelehrt hatte:
    Es tut mir leid, Nick, aber ich kann nicht weiterleben und fortgehen, wie du wolltest, denn mich müsste ich ja doch mitnehmen. Am Tag, als George Boleyn starb, habe ich den Glauben an Gott verloren. Dann den Glauben an meinen König, jetzt den an Katherine und an mich selbst. Nichts ist geblieben. Ich weiß, dass du um mich trauern wirst, aber ich hoffe, du kannst mir vergeben. Es gibt so viele Narren auf der Welt, Bruder. Einen davon kann sie gewiss gut entbehren .
    Sich das Leben zu nehmen war eine der schrecklichsten Sünden, die ein Mensch begehen konnte, denn er zerstörte Gottes Schöpfungswerk und größtes Geschenk. Darum konnte er auch nicht auf geweihtem Boden und mit den Segnungen der Kirche beerdigt werden. Ein »Eselsbegräbnis« nannte man die Beisetzung eines

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