Der dunkle Thron
Henry so krank wurde, dass er sich abends nicht mehr zu ihr schleppen konnte.«
»Dann habt ihr lange Glück gehabt. Was hättet ihr getan, wenn sie schwanger geworden wäre?«
»Sie war überzeugt, sie könnte dem König weismachen, es sei von ihm. Er lässt sich ja gern etwas vormachen, wenn er gut dabei dasteht.«
Nick schüttelte missbilligend den Kopf. »Nicht zu fassen, wie lange ihr unentdeckt geblieben seid.«
Raymond zog unfein die Nase hoch und schlang die Decke ein wenig fester um sich. »Louise hat uns geholfen. Und Lady Rochford.«
»Lady Rochford?«, wiederholte Nick fassungslos. »George Boleyns Witwe?«
Raymond nickte. »Sie ist Katherines erste Hofdame. Die Einzige, die unangemeldet ihr Schlafgemach betreten darf. Ohne sie hätten wir uns nie im Leben allein treffen können.«
»Lady Rochford treibt ein gefährliches Spiel, scheint mir«, bemerkte Nick. »Und deine Schwester ebenso.«
Raymond hob lustlos die Schultern. »Sie haben eben Mitleid mit ihr. Mit Katherine. Es ist so ein Albtraum, mit Henry verheiratet zu sein. Nicht dass die Königin je darüber spricht. Aber ich meine … stell es dir vor.«
»Nein, lieber nicht.« Nick dachte einen Moment nach. »Offen gestanden erschien die Königin mir rundum zufrieden mit ihrem Leben, als ich sie Weihnachten gesehen habe.«
Raymond trank noch einen Schluck und schwieg. Sein Blick war aufs Feuer gerichtet. »Sie findet es großartig, Königin zu sein«, sagte er nach einer Weile. »Die kostbaren Kleider und Juwelen. Die Bankette und Hoffeste. Und die Macht, natürlich. Sie ist … eine oberflächliche, selbstsüchtige Gans. Zu beschränkt, um wirklich berechnend zu sein, aber allein ihre Wünsche bestimmen ihr Handeln.« Er sah Nick wieder an. »Sie ist ein läufiges Luder ohne Gewissen. Ohne Loyalität …«
»Was hat dir so gründlich die Augen geöffnet?«, fragte der ältere Bruder. »Hat sie dich betrogen?«
Raymond nickte. Als zwei Tränen über seine Wangen liefen, wischte er sie ungeduldig weg.
»Mit wem?«
»Thomas Culpeper.«
Nick stieß angewidert die Luft aus. Hatte die Königin denn unter all den jungen Männern in Henrys Gefolge keinen besseren finden können als ausgerechnet diesen affektierten Geck, der sich ein parfümiertes Seidentüchlein unter die Nase hielt, wenn er am Viehstall vorbeiging, aber nicht zu fein war, die Frau eines Wildhüters zu schänden?
»Ich schätze, sie hat ihn sich ausgesucht, weil er so hoch in Henrys Gunst steht«, murmelte Raymond, als hätte Nick die Frage laut ausgesprochen. »Es ist die Gefahr, die sie reizt. Sie hat so lange mit dem Feuer gespielt, ohne sich die Finger zu verbrennen, dass sie immer verwegener wird.«
»Das kann nicht lange gut gehen«, bemerkte Nick warnend.
Raymond schüttelte langsam den Kopf. »Louise sagt, es wird schon gemunkelt. Die Reformer, Cromwells einstige Vertraute, die Norfolks Einfluss auf den König mit Argwohn betrachten, lassen die Königin bespitzeln. Vielleicht haben sie Culpeper schon im Visier. Oder mich. Jedenfalls hat Louise Angst. Sie hat mich praktisch in den Stall geschleift und aufs Pferd gesetzt und gesagt, ich soll zu dir reiten.«
Nick beugte sich vor und sagte eindringlich. »Ray, ich sehe, dass du verzweifelt bist, und glaub mir, es tut mir leid, dass du so bitter enttäuscht wurdest. Aber wir müssen jetzt praktisch denken. Weiß Culpeper von dir und der Königin?«
»Ich nehme es an.« Es klang gleichgültig.
Nick packte seinen Unterarm. »Wenn sie auffliegen, kannst du sicher sein, dass er auf der Streckbank landet und jeden Namen nennt, den er weiß.«
»Und ob du’s glaubst oder nicht, ich wär gern dabei«, entgegnete Raymond. »Ich habe noch niemals im Leben einen Menschen so gehasst. Dabei weiß ich, dass er eigentlich gar nichts dafür kann. Sie ist diejenige, die ich hassen sollte. Aber es geht nicht, Nick. Ich hab’s versucht, aber es geht nicht. Ich kann einfach nicht aufhören, sie zu lieben. Ist das nicht … das Jämmerlichste, was du je gehört hast?«
Der Ältere schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich … kenne mich nicht besonders gut aus mit diesen Dingen, aber ich glaube, das ist das Wesen der Liebe. Ihre Natur. Vermutlich wirst du irgendwann lernen, angemessen zornig auf Katherine zu sein. Falls du lange genug lebst. Und dazu musst du das Land verlassen, und zwar noch heute.«
Raymonds Blick war eigentümlich stumpf. »Ich weiß.«
Nick wies einladend auf sein Bett. »Leg dich hin. Vor Einbruch der
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