Der dunkle Thron
Seite, die Köpfe über die alte Aeneas-Dichtung gebeugt.
»Nanu, Schwester Janis«, sagte er lächelnd. »Das ist eine seltene Freude.«
Janis begrüßte ihn mit der aufrichtigen, aber etwas zurückhaltenden Freundlichkeit, die sie so mühelos beherrschte. »Ach du meine Güte, es wird dunkel«, bemerkte sie dann mit einem Blick zum Fenster. »Ich fürchte, Lord Waringham und ich haben bei der Lektüre wieder einmal die Zeit vergessen.«
John setzte sich ihnen gegenüber an den Tisch und ergriff Nicks beinah unberührten Becher. »Wenn du gestattest, Cousin …«, sagte er eine Spur bissig und trank.
Nick grinste flüchtig. »Ich schätze, der Anstand gebietet, dass ich das nächste Fass bezahle«, musste er einräumen. »Du kommst spät. Keine Fieberepidemie, hoffe ich?«
»Nein.« John seufzte, schien einen Moment mit sich zu ringen, ob er weitersprechen sollte, und murmelte dann: »Was soll’s, morgen weiß es ohnehin die ganze Stadt. Ich war im Tower, Nick. Der Constable hat mich holen lassen. Unsere ehemalige Königin hat heute ihr Urteil bekommen. Als es ihr verlesen wurde, ist sie in Ohnmacht gefallen. Als sie wieder zu sich kam, hat sie angefangen zu schreien. Und nicht mehr aufgehört. Der arme Sir John ging auf dem Zahnfleisch, als ich kam.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wann wird sie hingerichtet?«
»Morgen früh.«
Janis bekreuzigte sich. »Und werden die Wachen ein weinendes Häuflein Elend zum Richtblock schleifen müssen?«, fragte sie beklommen.
John schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht. Ich habe ihr Opium eingeflößt, um sie zu beruhigen, und dem Constable die gleiche Dosis für morgen früh dagelassen.«
»Und was geschieht mit Lady Rochford?«, fragte Nick.
»Kommt gleich nach Katherine an die Reihe. Beiden erspart man die Öffentlichkeit auf dem Tower Hill, sie werden innerhalb der Mauern des Tower enthauptet. In welchem Zustand Lady Rochford sein wird, ist schwierig vorherzusehen. Heute war sie vollkommen apathisch und nicht ansprechbar, an anderen Tagen ist sie fahrig und verzweifelt und weint immerzu. Und sie spricht in einem fort, meistens mit Menschen, die längst tot sind, ihrem Gemahl oder Anne Boleyn. Den Wachen graut vor ihr. Alle werden froh sein, wenn sie es morgen überstanden hat.«
»Ich dachte, das Gesetz verbietet, Menschen hinzurichten, die den Verstand verloren haben.«
»Tja«, machte John. »Aber Gesetze kann man ändern, Nick. Das hat das Parlament heute früh auf die Schnelle noch erledigt.«
»Genau wie bei Richard Mekins«, bemerkte Nick, und er dachte unbehaglich an die Worte, die Bischof Bonner ihm damals entgegengeschleudert hatte: Wäret Ihr gelegentlich im Parlament, hättet Ihr Eure Bedenken vorbringen können. Jetzt nicht mehr. Natürlich wusste er, dass eine einzelne Stimme gegen die Mehrheit nichts ausrichten konnte. Aber er wusste auch dies: Er drückte sich davor, den Einfluss auszuüben, der ihm zustand, weil der König und seine Regierung ihn anwiderten.
»Ich werde auf dem Heimweg in eine Kirche gehen und für die beiden beten«, stellte Janis in Aussicht und stand auf. »Vermutlich ist jedes Wort wahr, das in ihrem Urteil steht, und sie haben Verrat begangen, aber ich kann nicht anders, als sie zu bedauern.«
Nick erhob sich ebenfalls. »Ich begleite Euch zur Krippe, Schwester. Aber nicht in die Kirche. Ich fürchte, für Katherine Howard habe ich nicht einen einzigen frommen Wunsch übrig.«
Waringham, Mai 1542
Nick ertappte sich dabei, dass er dem Tag entgegenfieberte, da sein Sohn nach Hause kommen würde. Auf seine Bitte hin hatte Madog sich bereitgefunden, nach Hatfield zu reiten und Francis – sein Patenkind – dort abzuholen. Nick wollte eine neuerliche Szene mit Polly vermeiden, und ihm graute ein wenig davor, den sicher tränenreichen Abschied von Mutter und Sohn miterleben zu müssen.
Er hatte die Fohlzeit abgewartet und das arbeitsreiche Frühjahr, da er praktisch Woche um Woche mit drei oder vier Pferden nach London ritt, um sie auf dem Markt in Smithfield zu verkaufen. Wie jedes Jahr wünschte er sehnlich, er könne das Marktrecht für Waringham zurückerlangen, aber die Geschäfte liefen gut, und er war zufrieden. Und vier der neuen Fohlen waren Estebans Söhne und Töchter, zeigten schon erste Anzeichen seiner edlen Gestalt und anspruchsvollen Natur. Nick setzte große Erwartungen in sie.
»Hättest du bei der Fortsetzung deines eigenen Stammbaums so viel Sorgfalt an den Tag gelegt wie bei denen der Fohlen,
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