Der dunkle Thron
Kopf an seine Schulter und schlang die Arme um seinen Hals, so fest, als hätte sie insgeheim Zweifel gehegt, dass ihre Eltern je wieder heimkommen würden.
Isabella war im Oktober nach König Henrys Tod zur Welt gekommen, wenige Wochen bevor ihr Vater aus dem Tower entlassen worden war. Es war also tatsächlich geschehen, was Nick sich gewünscht hatte: In der Nacht, die er für die letzte seines Lebens gehalten hatte, war Janis schwanger geworden. Manchmal plagte ihn indes der Verdacht, die Verzweiflung jener Stunde habe einen Schatten auf die Seele seiner Tochter gelegt. Sie war ein ernstes, stilles Kind und mit ihrem dunklen Haar so aus der Art geschlagen, dass die Bauern sie vermutlich ein Wechselbalg genannt hätten, wären ihre Augen nicht so unverkennbar Waringham-blau gewesen.
Nick trug sie zum Tisch und setzte sich auf seinen Sessel. »Isaac, sei ein guter Junge und schenk deinem alten Herrn einen Becher ein.«
Isaac musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Glaspokale auf dem Wandbord zu gelangen. Furchtlos trug er eins der kostbaren Gefäße zum Tisch und schenkte es voll. »Wenn du nichts dagegen hast, geh ich dann mal wieder«, sagte er seufzend. »Ehe Pastor Pargeter mir den Kopf abreißt. Er hält es einfach nicht aus, wenn ich auch nur fünf Minuten seiner Lateinstunde verpasse …«
»Dann lauf«, antwortete Nick, und als der Junge den Raum verlassen hatte, murmelte er: »Pastor Pargeter. Es klingt immer noch seltsam in meinen Ohren.«
»Ich weiß, Liebster«, gab Janis zurück, kam zum Tisch und schenkte sich ebenfalls einen Schluck Wein ein. »Aber wir müssen froh sein, dass er uns erhalten geblieben ist. Anders als Simon.«
Nach König Henrys Tod vor sechs Jahren hatten die Reformer endgültig das Ruder übernommen. Edward und Thomas Seymour, die Onkel des kleinen Königs, waren überzeugte Anhänger der neuen Religion gewesen, genau wie die Königinwitwe, die Thomas Seymour nach schockierend kurzer Trauerzeit geheiratet hatte. Edward Seymour war Lord Protector geworden und hatte gemeinsam mit Erzbischof Cranmer die Führung des Kronrats übernommen. Keine zwei Jahre später hatte Cranmer mit dem Book of Common Prayer eine Agende – einen Leitfaden – für Gebet und Gottesdienst vorgelegt, dem ein jeder zu folgen hatte, und das Parlament verabschiedete ein Gesetz, die Uniformitätsakte, die es unter Strafe stellte, die althergebrachte heilige Messe zu halten und zu hören. Nick musste allerdings einräumen, dass Verstöße gegen dieses Gesetz vergleichsweise milde geahndet wurden, denn die Übeltäter wurden nicht verbrannt, sondern schlimmstenfalls eingesperrt. Doch kein Priester durfte mehr eine Kirchengemeinde führen oder Schulkinder unterrichten, der sich nicht zum Book of Common Prayer bekannte. Anthony Pargeter hatte dies getan und war der Schule in Waringham so erhalten geblieben, denn schon vor der Verabschiedung der Uniformitätsakte hatte seine Überzeugung sich allmählich gewandelt, und er war Reformer geworden. Oder Protestant, wie sie sich jetzt immer häufiger nannten.
Simon Neville hingegen war in den Norden gegangen, wo die Wurzeln seiner Familie lagen und der alte Glauben noch verbreitet war. Nick vermisste ihn sehr.
Er strich seiner Tochter über den flaumweichen, dunklen Schopf. »Hat deine Mutter dir schon von dem großen Schiff erzählt, mit dem wir übers Meer gekommen sind, Engel?«
Isabella nickte. »Sie hat uns erzählt, du hättest die Fische gefüttert.«
Nick warf seiner Frau einen finsteren Blick zu. »Wärmsten Dank auch, Madam …«
Janis biss sich auf die Unterlippe. »Gern geschehn, Mylord.«
»Womit hast du die Fische gefüttert?«, wollte Isabella wissen.
»Mit … ähm … Brot und Kohlsuppe.«
»Fische mögen Kohlsuppe?«
»Fische mögen alles. Und was hast du gemacht, während wir fort waren, hm?«
»Gladys und ich haben ein Lämmchen mit dem Trichter gefüttert.« Gladys war Madogs Jüngste und Isabellas beste Freundin. »Aber in der Woche nach Ostern ist es gestorben.«
»Das tut mir leid.« Er drückte die Lippen auf ihre Stirn. »Warst du traurig?«
Isabella nickte bedächtig. »Madog hat uns auf Sooty Reitunterricht gegeben, um uns zu trösten, aber Isaac hat geschimpft.«
Sooty war Isaacs Pony und sein ganzer Stolz. Nick konnte verstehen, dass der Junge es nicht gern sah, wenn seine kleine Schwester es mit Beschlag belegte. »Ich rede mit deinem Bruder«, versprach Nick. »Wir werden an seine Großmut
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