Der dunkle Thron
ihm.«
»Es sieht eher aus wie eine Enzyklopädie«, bemerkte sie schmunzelnd.
Doch sobald der Diener die Halle verlassen hatte, legte sie das Paket beiseite, griff stattdessen nach dem Brief des Königs, welcher vor ihr auf dem Tisch lag, und tippte mit dem Zeigefinger der Rechten darauf, als wolle sie ihn aufspießen. »Seid so gut und bestellt Eurem Bruder Northumberland, seine Drohungen langweilen mich zu Tränen, Dudley. Ich hatte tatsächlich angenommen, dieses Thema sei ein für alle Mal erledigt. Er möge sich daran erinnern, dass der Kaiser ein wachsames Auge auf meine freie Religionsausübung hat.«
Jerome nickte unglücklich. Es war unschwer zu erkennen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Sein ältester Bruder John, inzwischen Duke of Northumberland, war der mächtigste Mann in Edwards Kronrat, denn er und er allein war es, der das Ohr des jungen Königs besaß. Schon vor zwanzig Jahren hatte er politischen Instinkt bewiesen, sich auf Cromwells Seite geschlagen und keine Skrupel gehabt, der damals siebzehnjährigen Mary die Nachricht zu überbringen, dass sie keine Prinzessin mehr sei. Diese Begegnung war Nick unvergesslich, und er hatte mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachtet, wie John Dudley in den Jahren darauf nicht nur jeden Umsturz im Kronrat überlebt, sondern für seine Karriere zu nutzen gewusst hatte. Während andere den Kopf verloren, war sein Stern unaufhaltsam aufgestiegen, bis er vor knapp vier Jahren die Seymour-Brüder gestürzt und die Macht im Kronrat – und somit in England – übernommen hatte. Doch Jerome hatte es vorgezogen, auf Distanz zu seinem ehrgeizigen Bruder zu bleiben, und hatte die Vorteile, die dessen Stellung ihm hätte verschaffen können, ungenutzt gelassen. Das rechnete Nick ihm hoch an, frotzelte aber trotzdem: »Du hast doch hoffentlich keine Angst, deinem großen Bruder Lady Marys Antwort zu überbringen?«
»Nein«, knurrte Jerome. »Aber ich bin auch nicht gerade erpicht darauf. Um Euretwillen bitte ich Euch, Mylady: Brüskiert den König nicht. Nicht ausgerechnet jetzt.«
Mary ließ ihn nicht aus den Augen. »Was heißt das, ›nicht ausgerechnet jetzt‹?«
»Der Zustand des Königs ist bedenklich«, berichtete Jerome.
»Wie bedenklich?«, bohrte sie weiter.
Jerome sah hilfesuchend zu Nick.
»Sag ihr die Wahrheit«, riet der.
»Niemand spricht es offen aus, Madam. Aber ich glaube … die Ärzte haben ihn aufgegeben.«
Mary bekreuzigte sich, erhob sich ohne Eile von ihrem Platz und trat ans Fenster: Als Frau von siebenunddreißig Jahren, nicht mehr jung, auch nicht mehr so gertenschlank wie einst, war das, was sie heute vor allem ausstrahlte, Lebensklugheit und Würde. Aber Jeromes Neuigkeiten hatten sie erschüttert.
Nach einem längeren Schweigen wandte sie sich wieder um und ließ sich auf den Fenstersitz sinken. »Ich habe zwei Nachrichten für Euch, Sir Jerome: Sagt meinem Bruder, dem König, ich danke ihm für seinen Brief und seine Sorge um mein Seelenheil, und wenn sein Bischof von London mich besucht, werde ich dessen Predigt offenen Herzens anhören. Und sagt Eurem Bruder Northumberland, dieser ketzerischen Natter, dies: In meinem Haushalt wird auch weiterhin die heilige Messe gefeiert, und jeder meiner Freunde und Nachbarn, der herkommt, um sie zu hören, ist mir willkommen. Sollte der Kronrat deswegen erwägen, mich oder meinen Kaplan einzusperren, wird mich das zum einen nicht einschüchtern und zum anderen die Folge haben, dass der Kaiser ein Embargo verhängt und alle weiteren Lieferungen von Schießpulver nach England untersagt. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie Euer Bruder versuchen wird, die Schotten mit Schwertern und Langbögen in Schach zu halten.«
»Madam …«, begann Jerome beschwörend, aber sie schnitt ihm mit einer gebieterischen, nicht einmal unfreundlichen Geste das Wort ab.
»Nur eines noch: Mein Vater hat die Erbfolge in einem Testament geregelt, welches Parlament und Kronrat anerkannt haben. Sollte mein Bruder diese Welt bald verlassen müssen, werde ich um ihn trauern. Aber ebenso werde ich Königin von England. So hat mein Vater es verfügt. Seid so gut und erinnert Euren Bruder daran.«
Jerome verstand, dass er entlassen war. Er stand auf, verneigte sich wortlos und ging hinaus.
Mary erhob sich vom Fenstersitz und griff nach dem wollenen Tuch, das ordentlich gefaltet über der Stuhllehne hing. »Ob ich das wirklich könnte, Nick?«, fragte sie versonnen, während sie den
Weitere Kostenlose Bücher