Der Dunkle Turm 3 - Tot
ankommen.
9
Gegen neun Uhr erwachte er aus seiner unglücklichen Benommenheit und nahm ein wenig Notiz von seiner Umgebung. Er stand an der Ecke Lexington Avenue und Fifty-fourth Street und konnte sich überhaupt nicht erinnern, wie er dorthin gelangt war. Er bemerkte zum erstenmal, daß es ein atemberaubend schöner Tag war. Der 7. Mai, der Tag, an dem sein Wahnsinn angefangen hatte, war schön gewesen, aber heute war es zehnmal schöner – ein Tag, an dem der Frühling dem Sommer begegnet: kräftig und stattlich, mit einem schiefen Grinsen im braungebrannten Gesicht. Die Sonne spiegelte sich grell in den Scheiben der Innenstadthäuser; der Schatten eines jeden Fußgängers war schwarz und scharf umrissen. Der Himmel oben hatte eine makellos blaue Färbung, die nur hier und da mit weißen Schönwetterwölkchen meliert war.
Ein Stück entfernt standen zwei Geschäftsleute in teuren, maßgeschneiderten Anzügen an einem Bretterzaun, der um eine Baustelle herum errichtet worden war. Sie lachten und reichten etwas hin und her. Jake ging neugierig in ihre Richtung und sah, als er näher kam, daß die beiden Geschäftsleute Tic-Tac-Toe an dem Zaun spielten, wobei sie einen teuren Kugelschreiber von Mark Cross benützten, um das Gitter zu ziehen und die X und O zu markieren. Das fand Jake den absoluten Heuler. Als er bei ihnen war, machte einer ein O in der rechten oberen Ecke des Gitters und zog dann eine diagonale Linie durch die Mitte.
»Schon wieder ausgetrickst!« sagte sein Freund. Dann nahm dieser Mann, der wie ein hochkarätiger leitender Angestellter oder Anwalt von Börsenmaklern aussah, den Mark-Cross-Stift an sich und zeichnete ein neues Gitter.
Der erste Geschäftsmann, der Sieger, sah nach links und erblickte Jake. Er lächelte. »Toller Tag, Junge, was?«
»Kann man wohl sagen!« sagte Jake und stellte zu seinem Entzücken fest, daß ihm jedes Wort ernst war.
»Zu schön für die Schule, hm?«
Diesmal lachte Jake wirklich. Die Piper School, wo man eine Freizeit hatte statt einer Mittagspause und wo man ab und zu austreten mußte, und nicht etwa scheißen, schien plötzlich weit, weit entfernt und unwichtig. »So ist es.«
»Möchtest du ein Spiel machen? Billy hier konnte mich in der fünften Klasse schon nicht schlagen und kann es bis heute nicht.«
»Laß den Jungen in Ruhe«, sagte der zweite Geschäftsmann und hielt den Mark-Cross-Schreiber von sich. »Diesmal bist du verloren.« Er blinzelte Jake zu, und Jake war über sich selbst erstaunt, als er zurückblinzelte. Er ging weiter und überließ die beiden Männer ihrem Spiel. Das Gefühl, daß etwas unvorstellbar Wunderbares passieren würde – vielleicht sogar schon angefangen hatte –, wurde immer stärker, und er hatte den Eindruck, als würden seine Füße schon gar nicht mehr den Boden berühren.
Das grüne Männchen an der Ecke leuchtete auf, und er überquerte die Lexington Avenue. Mitten auf der Straße blieb er so unvermittelt stehen, daß ein Botenjunge auf einem Zehngangrad ihn beinahe überfuhr. Es war ein herrlicher Frühlingstag – zugegeben. Aber deswegen ging es ihm nicht so gut, deshalb nahm er nicht plötzlich von allem Kenntnis, was um ihn herum vor sich ging, darum war er nicht so felsenfest überzeugt, daß etwas Gewaltiges passieren würde.
Die Stimmen waren verstummt.
Sie waren nicht endgültig verschwunden – das wußte er irgendwie –, aber vorläufig waren sie verstummt. Warum?
Jake mußte plötzlich an zwei Männer denken, die in einem Zimmer streiten. Sie sitzen einander an einem Tisch gegenüber und beschimpfen sich mit wachsender Verbitterung. Nach einer Weile beugen sie sich vor, bringen die Gesichter in gefährliche Nähe und besabbern sich wütend mit einer feinen Gischt aus Speichel. Kurz darauf folgen Schläge. Aber bevor es soweit ist, hören sie ein konstantes Pochen – das Schlagen einer Baßtrommel – und dann das fröhliche Schmettern von Blasinstrumenten. Die beiden Männer hören auf zu streiten und sehen einander verwundert an.
Was ist das? fragt einer.
Keine Ahnung, antwortet der andere. Klingt wie eine Parade.
Sie laufen zum Fenster, und es ist eine Parade – eine uniformierte Kapelle marschiert im Gleichschritt, die Sonne funkelt auf ihren Posaunen, hübsche Tänzerinnen schwingen den Taktstock und lassen die Beine fliegen, und in blumengeschmückten Limousinen sitzen winkende Berühmtheiten.
Die beiden Männer sehen zum Fenster hinaus und haben ihren Zwist vergessen.
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