Der Dunkle Turm 3 - Tot
geholt, Johnny.« Sie drückte ihm die Hand auf die Stirn. »Heiß bist du nicht, aber das muß nicht immer der Fall sein.«
»Ich glaube, ich bin nur müde«, sagte Jake und dachte: Wenn es nur das wäre. »Vielleicht trinke ich nur ein Soda und sehe eine Weile fern.«
Sie grunzte. »Möchtest du mir irgendwelche Aufgaben zeigen? Wenn ja, dann beeil dich. Ich bin heute spät dran mit dem Essen.«
»Heute nicht«, sagte er. Er ging aus der Vorratskammer, holte sein Soda und schlenderte weiter ins Wohnzimmer. Er schaltete The Hollywood Squares ein und verfolgte geistesabwesend, wie die Stimmen zankten und neue Erinnerungen an diese staubige andere Welt an die Oberfläche kamen.
7
Seine Mutter und sein Vater merkten nicht, daß etwas mit ihm los war – sein Vater kam sowieso erst um halb zehn nach Hause –, und das war Jake ganz recht. Er ging um zehn ins Bett, lag wach in der Dunkelheit und lauschte der Stadt vor dem Fenster: Bremsen, Hupen, heulende Sirenen.
Du bist gestorben
Bin ich gar nicht. Ich liege wohlbehalten hier in meinem Bett.
Das spielt keine Rolle. Du bist gestorben, und du weißt es.
Das Schlimme war, er wußte beides.
Ich weiß nicht, welche Stimme wahr ist, aber ich weiß, ich kann so nicht weiterleben. Also hört auf, alle beide. Hört auf zu streiten und laßt mich in Ruhe. Okay? Bitte?
Aber sie gaben keine Ruhe. Konnten es offenbar nicht. Und Jake dachte, daß er aufstehen sollte – jetzt gleich – und die Badezimmertür aufmachen.
Die andere Welt würde dort sein. Das Rasthaus würde dort sein, und der Rest von ihm würde auch dort sein – unter einer uralten Decke im Stall, wo es nach Hitze und Salbei und Angst in einer Handvoll Staub roch, eine Welt, die jetzt unter dem Schattenflügel der Nacht lag. Ich kann es ihm sagen, aber das wird nicht nötig sein… denn ich werde IN ihm sein… ich werde ER sein!
Er lief durch sein dunkles Zimmer und lachte fast vor Erleichterung und stieß die Tür auf. Und…
Und es war das Bad. Nur sein Bad, wo das gerahmte Poster von Marvin Gaye an der Wand hing und die Jalousie ein Streifenmuster aus Licht und Schatten auf den Kachelboden warf.
Er stand eine ganze Weile da und versuchte, seine Enttäuschung zu schlucken. Sie wich nicht. Und sie war bitter.
Bitter.
8
Die drei Wochen zwischen damals und heute erstreckten sich in Jakes Erinnerung wie eine grimmige Einöde – ein alptraumhaftes wüstes Land, wo es keinen Frieden, keine Ruhe, kein Entkommen von der Qual gab. Er hatte alles beobachtet – wie ein hilfloser Gefangener, der auf eine Stadt hinabsah, die er einmal beherrscht hatte –, während sein Verstand unter dem zunehmenden Druck der Phantomstimmen und Erinnerungen ächzte. Er hatte gehofft, die Erinnerungen würden aufhören, als der Mann namens Roland ihn in den Abgrund unter den Bergen hatte stürzen lassen, aber sie hörten nicht auf. Statt dessen wurden sie einfach zurückgespult und fingen wieder von vorne an wie ein Tonband, das auf Repeat eingestellt ist und immer wieder von vorne anfängt, bis es entweder kaputtgeht oder jemand daherkommt und es abschaltet.
Seine Wahrnehmung des mehr oder weniger wirklichen Lebens als Junge in New York City wurde immer löchriger, während das schreckliche Schisma sich immer weiter vertiefte. Er konnte sich erinnern, wie er zur Schule ging, am Wochenende ins Kino, vor einer Woche zu einem Sonntagsbrunch mit seinen Eltern (oder waren es zwei?), aber er erinnerte sich so daran, wie ein Mann, der an Malaria erkrankt ist, sich an die tiefste, dunkelste Phase seiner Krankheit erinnern mag: Menschen wurden zu Schatten, Stimmen schienen zu hallen und einander zu überlagern, und selbst so einfache Handlungen wie ein Sandwich zu essen oder eine Cola aus dem Automaten in der Sporthalle zu holen wurden zu einer Anstrengung. Jake schritt in einer Fuge doppelter Erinnerungen und brüllender Stimmen durch diese Tage. Er wurde zunehmend von Türen besessen – allen möglichen Türen; die Hoffnung, die Welt des Revolvermannes könnte hinter einer davon liegen, wich nie ganz von ihm. Was auch keineswegs so seltsam war, denn es war die einzige Hoffnung, die er noch besaß.
Aber heute war das Spiel vorbei. Eigentlich hatte er sowieso nie eine richtige Gewinnchance gehabt. Er hatte aufgegeben. Er war ausgerissen. Jake ging durch das Gitter der Straßen blindlings Richtung Osten, hielt den Kopf gesenkt und hatte keine Ahnung, wohin er ging und was er tun würde, sollte er dort
Weitere Kostenlose Bücher