Der Dunkle Turm 4 - Glas
angenommen hatte. Wenn das erledigt war, konnte sie ihr Leben weiterleben und tun, was getan werden musste. Vielleicht hatte sie darum diesen Weg eingeschlagen – denselben, den sie gestern entlanggeritten war, und vorgestern, und vorvorgestern. Er ritt regelmäßig durch diesen Abschnitt der Schräge, das hatte sie auf dem unteren Marktplatz erfahren.
Sie wandte sich von der Schräge ab, weil sie plötzlich wusste, dass er da sein würde, als hätten ihre Gedanken ihn gerufen – oder ihr Ka.
Sie sah nur blauen Himmel und flache Hügelkämme, die sich so sanft erstreckten wie Schenkel und Hüften und Taille einer Frau, die auf der Seite im Bett lag. Susan fühlte eine bittere Enttäuschung in sich aufsteigen. Sie konnte sie fast im Mund schmecken, so wie feuchte Teeblätter.
Sie ging zu Pylon zurück, um nach Hause zurückzukehren und die Entschuldigung hinter sich zu bringen, die wohl angebracht war. Je früher sie das tat, desto früher wäre es überstanden. Sie griff nach dem linken Steigbügel, der ein wenig verdreht war, und in diesem Augenblick kam ein Reiter über den Horizont, genau an der Stelle, die für sie wie die Hüfte einer Frau aussah. Dort verweilte er, nur eine Silhouette zu Pferde, aber sie wusste sofort, wer es war.
Lauf weg!, sagte sie sich in plötzlicher Panik. Steig auf und galoppiere davon! Verschwinde von hier! Schnell! Bevor etwas Schreckliches passiert… bevor es wirklich das Ka ist, das wie ein Sturm daherkommt und dich mitsamt deinen Plänen himmelwärts und weit fort trägt!
Sie lief nicht weg. Sie stand mit Pylons Zügel in der Hand da und redete murmelnd auf ihn ein, als der rosillo auf einmal aufschaute und dem großen, rötlich braunen Wallach, der den Hügel herunterkam, eine Begrüßung zuwieherte.
Dann war Will da, zuerst hoch über ihr, von wo er herabschaute, dann stieg er mit einer anmutigen, geschmeidigen Bewegung ab, die sie trotz ihrer jahrelangen Erfahrung mit Pferden wohl niemals fertig gebracht hätte. Diesmal gab es kein ausgestrecktes Bein mit in den Sand gedrückter Ferse, keinen Hut, der bei einer komisch ernsten Verbeugung geschwenkt wurde; diesmal war der Blick, mit dem er sie bedachte, fest und ernst und beunruhigend erwachsen.
Sie sahen einander in der großen Stille der Schräge an, Roland von Gilead und Susan von Mejis, und in ihrem Herzen spürte sie, wie ein Wind aufkam. Sie fürchtete und begrüßte ihn im gleichen Maß.
7
»Guten Morgen, Susan«, sagte er. »Ich freue mich, dich wiederzusehen.«
Sie sagte nichts, wartete ab und beobachtete. Konnte er ihr Herz so deutlich schlagen hören wie sie selbst? Natürlich nicht; das war nichts weiter als romantischer Quatsch. Und doch kam es ihr so vor, als müsste alles innerhalb eines Radius von fünfzig Schritten dieses Pochen hören können.
Will tat einen Schritt vorwärts. Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn misstrauisch an. Er senkte kurz den Kopf, dann sah er mit zusammengepressten Lippen wieder auf.
»Ich erflehe deine Verzeihung«, sagte er.
»Tatsächlich?« Ihre Stimme war kühl.
»Was ich in jener Nacht gesagt habe, war ungerechtfertigt.«
Darauf verspürte sie einen Funken aufrichtigen Zorns. »Mir ist gleich, ob es ungerechtfertigt war; es war unfair. Und es hat mir wehgetan.«
Eine Träne quoll ihr aus dem linken Auge und lief an der Wange herab. Es schien, als hätte sie doch noch nicht alle vergossen.
Sie dachte zunächst, was sie gesagt hatte, müsste ihn eigentlich beschämen, aber obwohl eine leichte Röte seine Wangen überzog, sah er ihr weiter fest in die Augen.
»Ich habe mich in dich verliebt«, sagte er. »Darum habe ich es gesagt. Ich glaube, das ist mir widerfahren, noch bevor du mich geküsst hast.«
Darüber musste sie lachen… aber die Schlichtheit, mit der er gesprochen hatte, ließ ihr Gelächter in den eigenen Ohren falsch klingen. Blechern. »Mr. Dearborn…«
»Will. Bitte.«
»Mr. Dearborn«, sagte sie so geduldig wie eine Lehrerin, die es mit einem dummen Schüler zu tun hatte, »der Gedanke ist lächerlich. Auf der Grundlage einer einzigen Begegnung? Eines einzigen Kusses? Eines schwesterlichen Kusses?« Nun war sie diejenige, die errötete, fuhr aber hastig fort: »So etwas geschieht in Geschichten. Aber im wirklichen Leben? Eher nicht.«
Er nahm den Blick nicht von ihren Augen, und sie sah in den seinen etwas vom wahren Roland: die tiefe Romantik, mit der sein Wesen ausgestattet war, eine Romantik, die wie eine sagenhafte Ader
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