Der Dunkle Turm 4 - Glas
Je länger man sich in der unmittelbaren Umgebung des Eyebolt Canyon aufhielt, desto mehr schabte einem das Geräusch das Gehirn weg. Es wirkte auf die Zähne ebenso wie auf die Ohren; es vibrierte in dem Nervenknoten unterhalb des Brustbeins und schien das feuchte und empfindliche Gewebe hinter den Augen zu zerfressen. Aber am meisten drang es einem in den Kopf ein und sagte einem, dass alles, wovor man je Angst gehabt hatte, gleich hinter der nächsten Wegbiegung oder hinter jenem Haufen umgestürzter Felsbrocken lauerte, wo es nur darauf wartete, aus seinem Versteck gekrochen zu kommen, um einen zu schnappen.
Als sie den flachen und unfruchtbaren Boden am höchsten Punkt des Pfades erreicht hatten und der freie Himmel sich wieder über ihnen spannte, ging es etwas besser, aber da war das Licht schon fast erloschen, und als sie abstiegen und zum bröckelnden Rand des Canyons gingen, konnten sie außer Schatten kaum noch etwas erkennen.
»Nützt nichts«, sagte Cuthbert verdrossen. »Wir hätten früher aufbrechen sollen, Roland… Will, meine ich. Was sind wir doch für Dummköpfe!«
»Hier draußen kannst du mich Roland nennen, wenn du möchtest. Und wir werden sehen, was wir sehen wollten, und zählen, was wir zählen wollten – eine Schwachstelle, genau wie du gesagt hast. Warte einfach ab.«
Sie warteten, und keine zwanzig Minuten später ging der Hausierermond über dem Horizont auf – ein tadelloser Sommermond, riesig und orangefarben. Er schwamm im dunkelvioletten Meer des Himmels wie ein abstürzender Planet. Auf seinem Antlitz konnte man klar und deutlich den Hausierer erkennen, der mit seinem Sack voll schreiender Seelen aus Nones kam. Eine bucklige Gestalt aus verschwommenen Schatten, die deutlich sichtbar einen Rucksack über einer gekrümmten Schulter trug. Hinter ihr schien das orangerote Licht wie das Höllenfeuer zu lodern.
»Bah«, sagte Cuthbert. »Das ist ein Anblick, den man sich bei diesem Geräusch von da unten lieber ersparen sollte.«
Und doch blieben sie an Ort und Stelle (und hielten ihre Pferde fest, die immer wieder an ihren Zügeln zerrten, als wollten sie darauf hinweisen, dass sie diesen Ort schon längst verlassen haben sollten), und der Mond stieg zum Himmel auf, während er etwas schrumpfte und silberfarben wurde. Schließlich stand er so hoch, dass er sein knöchernes Licht in den Eyebolt Canyon warf. Die drei Jungen standen da und sahen nach unten. Keiner sagte ein Wort. Roland konnte nicht für seine Freunde sprechen, aber er glaubte, dass er kein Wort herausgebracht hätte, selbst wenn es von ihm verlangt worden wäre.
Eine kastenförmige Schlucht, sehr kurz und mit steilen Wänden, hatte Susan gesagt, und die Beschreibung passte haargenau. Sie hatte auch gesagt, dass der Eyebolt wie ein Schornstein aussah, der auf der Seite lag, und Roland vermutete, dass das ebenfalls stimmte, wenn man davon ausging, dass ein Schornstein beim Umstürzen leicht auseinander brach und mit einem Knick in der Mitte liegen blieb.
Bis zu diesem Knick sah der Grund des Canyons durchaus normal aus; nicht einmal die Knochen, die der Mond ihnen zeigte, waren ungewöhnlich. Viele Tiere, die in einen solchen Sackgassen-Canyon wanderten, besaßen nicht genügend Verstand, um wieder hinauszufinden, und im Falle des Eyebolt waren die Möglichkeiten, zu entkommen, durch das am Eingang aufgeschichtete Gehölz zusätzlich reduziert. Die Seitenwände waren viel zu steil zum Erklettern, abgesehen vielleicht von einer Stelle kurz vor dem kleinen Knick. Dort sah Roland eine Art von Rille an der Felswand entlanglaufen, in der es – möglicherweise! – genug Vorsprünge gab, an denen man Platz für Hand und Fuß finden konnte. Er hatte keinen besonderen Grund, das wahrzunehmen; er nahm es einfach zur Kenntnis, wie er sein ganzes Leben lang mögliche Fluchtwege zur Kenntnis nehmen würde.
Jenseits der Kerbe im Talboden befand sich etwas, was noch keiner von ihnen je zuvor gesehen hatte… Und als sie Stunden später ins Schlafhaus zurückkehrten, waren sie sich alle darin einig, dass sie eigentlich gar nicht genau wussten, was sie da gesehen hatten. Der hintere Teil des Eyebolt Canyon wurde von einer trüben, silbrigen Suppe verhüllt, aus der Dunst oder Nebel in schlangenförmigen Schwaden aufstieg. Die Flüssigkeit schien träge zu schwappen und gegen die Wände zu wogen, die sie umschlossen. Später sollten sie feststellen, dass Flüssigkeit und Nebel eine hellgrüne Farbe hatten; lediglich im
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