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Der Dunkle Turm 4 - Glas

Titel: Der Dunkle Turm 4 - Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: King Stephen
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Zivilisation vor, von viel Zeit, die für etwas aufgewendet wurde, das eigentlich nicht zwingend erforderlich war. Und in diesem Fall, vermutete er, auch nicht besonders nützlich. Orangen, die so weit nördlich der warmen Breiten gezüchtet wurden, schmeckten wahrscheinlich fast so sauer wie Zitronen. Doch wenn die Brise in den Bäumen raschelte, erfüllte ihn das mit einer bitteren Sehnsucht nach Gilead, und er dachte zum ersten Mal an die Möglichkeit, dass er seine Heimat nie mehr wiedersehen würde – dass er längst so sehr ein Wanderer geworden war wie der alte Hausierermond am Himmel.
    Er hörte sie, aber erst, als sie schon fast bei ihm war – wäre sie Feind statt Freund gewesen, hätte er vielleicht immer noch Zeit gehabt, zu ziehen und zu feuern, aber es wäre knapp geworden. Bewunderung erfüllte ihn, und als er ihr Gesicht im Licht der Sterne sah, hüpfte sein Herz vor Freude.
    Sie blieb stehen, als er sich umdrehte, und sah ihn nur an, während sie die Hände in einer Weise vor der Taille verschränkte, die auf reizende und unbewusste Weise kindlich wirkte. Er ging einen Schritt auf sie zu, da hob sie die Hände zu einer anscheinend erschrockenen Geste. Er blieb verwirrt stehen. Aber er hatte ihre Geste in dem spärlichen Licht falsch ausgelegt. Sie hätte stehen bleiben können, entschied sich aber dagegen. Sie trat ihm bewusst entgegen, eine große, junge Frau im Hosenrock und mit schlichten schwarzen Stiefeln. Ihre sombrera hing auf ihrem Rücken über dem geflochtenen Zopf ihres Haares.
    »Will Dearborn, unsere Begegnung steht unter einem günstigen und einem ungünstigen Stern«, sagte sie mit bebender Stimme, und dann küsste er sie; sie drückten sich brennend aneinander, während sich der Hausierer in der ausgehungerten Gestalt seines letzten Viertels in den Himmel erhob.
     
     
    10
     
    In ihrer einsamen Hütte hoch droben auf dem Cöos saß Rhea an ihrem Küchentisch über die Glaskugel gebeugt, die ihr die Großen Sargjäger vor anderthalb Monaten gebracht hatten. Ihr Gesicht war in das rosa Leuchten getaucht, aber niemand hätte es mehr für das Gesicht eines jungen Mädchens halten können. Sie besaß eine außerordentliche Vitalität, die sie viele Jahre aufrecht gehalten hatte (nur die Bewohner Hambrys, die schon am längsten hier lebten, hatten eine Vorstellung davon, wie alt Rhea vom Cöos wirklich war, wenn auch nur eine höchst ungefähre), aber die Glaskugel entzog ihr diese Vitalität nun doch – saugte Rhea aus wie ein Vampir das Blut. Der große Raum der Hütte hinter ihr war noch schmutziger und unordentlicher als gewöhnlich. Neuerdings hatte sie nicht einmal mehr Zeit, so zu tun, als würde sie putzen; die Glaskugel beanspruchte ihre ganze Zeit. Wenn sie nicht hineinsah, dann dachte sie daran hineinzusehen… und ach! Was hatte sie nicht alles schon gesehen!
    Ermot wand sich um eines ihrer hageren Beine und zischte vor Aufregung, aber sie bemerkte ihn kaum. Stattdessen beugte sie sich dichter über das verderbliche rosa Leuchten der Glaskugel und war wie verzaubert von dem, was sie da sah.
    Es war das Mädchen, das zu ihr gekommen war, um ihre Ehrbarkeit unter Beweis zu stellen, und es war der junge Mann, den sie bei ihrem ersten Blick in die Glaskugel gesehen hatte. Den sie zunächst für einen Revolvermann gehalten hatte, bis ihr seine Jugend klar geworden war.
    Das närrische Mädchen, das singend zu Rhea gekommen, aber in angemessenerem Schweigen wieder gegangen war, hatte sich als ehrbar erwiesen und mochte durchaus noch ehrbar sein (sie küsste und berührte den Jungen eindeutig mit einer für Jungfrauen typischen Mischung aus Wollust und Schüchternheit), aber wenn sie so weitermachten, würde sie nicht mehr lange ehrbar bleiben. Und wäre es nicht eine Überraschung für Hart Thorin, wenn er sein angeblich unberührtes junges Feinsliebchen mit ins Bett nahm? Es gab Mittel und Wege, Männer in dieser Hinsicht zu täuschen (Männer bettelten förmlich darum, in dieser Hinsicht getäuscht zu werden); eine Phiole Schweineblut erfüllte den Zweck voll und ganz, aber das konnte sie nicht wissen. Oh, das war zu schön! Und wenn sie daran dachte, dass sie hier mitverfolgen konnte, in diesem Glas, wie Miss Hochmut in Ungnade fiel! Oh, das war zu schön! Zu wunderbar!
    Sie beugte sich noch dichter darüber, und in ihren tiefen Augenhöhlen erstrahlte ein rosa Feuer. Ermot, der spürte, dass sie seiner Umgarnung gegenüber immun bleiben würde, kroch verdrossen auf dem Boden

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