Der Dunkle Turm 4 - Glas
bekommen. Er fragte sich eine Zeit lang, was er wegen ihrer Entdeckung auf dem Citgo-Gelände unternehmen sollte, doch dann schweiften seine Gedanken wieder zu Susan ab. War er ein Narr, dass er sie nicht genommen hatte, als sie genommen werden wollte? Dass er nicht geteilt hatte, was sie mit ihm teilen wollte? Wenn du mich liebst, dann liebe mich. Diese Worte hatten ihn beinahe zerrissen. Doch in den tiefen Kammern seines Herzens – Kammern, wo die deutlichste Stimme die seines Vaters war – spürte er, dass er nicht falsch gehandelt hatte. Und es war auch nicht nur eine Frage der Ehre, was immer sie denken mochte. Aber sollte sie es doch ruhig denken, wenn sie das wollte; es war besser, sie hasste ihn ein klein wenig, als dass ihr klar wurde, in welch großer Gefahr sie beide schwebten.
Gegen drei Uhr, als er endlich zur Bar K reiten wollte, hörte er einen raschen, von Westen kommenden Hufschlag auf der Hauptstraße. Ohne zu überlegen, warum es so wichtig war, es zu tun, schwenkte Roland in diese Richtung zurück und brachte Rusher hinter einer hohen Reihe wild wuchernder Hecken zum Stehen. Der Hufschlag wurde fast zehn Minuten lang stetig lauter – in der Totenstille der frühen Morgenstunden konnte man Geräusche weit hören –, und das war genug Zeit für Roland, sich zu überlegen, wer da zwei Stunden vor Morgengrauen nach Hambry ritt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Und er irrte sich nicht. Der Mond war untergegangen, aber selbst durch die mit Dornengebüsch überwucherten Lücken in der Hecke hatte er keine Mühe, Roy Depape zu erkennen. Am Morgen würden die Großen Sargjäger wieder zu dritt sein.
Roland dirigierte Rusher wieder in seine ursprüngliche Richtung und ritt los, um sich wieder mit seinen Freunden zu treffen.
Kapitel 10
V OGEL UND B ÄR UND F ISCH UND H ASE
1
Der wichtigste Tag in Susan Delgados Leben – der Tag, an dem ihr Leben herumwirbelte wie ein Mühlstein auf seiner Achse – kam etwa zwei Wochen nach ihrem Mondscheinspaziergang mit Roland über das Ölfeld. Seither hatte sie ihn nur ein halbes Dutzend Mal gesehen, stets aus der Ferne, und sie hatten die Hände zum Gruß erhoben, wie flüchtige Bekannte es zu tun pflegten, wenn ihre Angelegenheiten sie kurz in Sichtweite des anderen führten. Jedes Mal, wenn das geschah, verspürte sie Schmerzen so stechend wie Messerstiche in sich… Und auch wenn es zweifellos grausam war, hoffte sie, dass er dieselben Messerstiche verspürte. Wenn diese erbärmlichen Wochen überhaupt etwas Gutes hatten, dann nur, dass ihre größte Befürchtung – es könnte über sie und den jungen Mann, der sich Will Dearborn nannte, geklatscht werden – langsam nachließ, was sie sogar mit einer gewissen Traurigkeit erfüllte. Klatsch? Es gab nichts, worüber man klatschen konnte.
Dann, an einem Tag zwischen dem Verschwinden des Hausierermondes und dem Auftauchen der Jägerin, kam das Ka schließlich und blies sie fort – Haus und Scheune und alles. Es begann mit einem Besucher an der Tür.
2
Sie hatte gerade die Wäsche erledigt – bei nur zwei Frauen eine recht leichte Aufgabe –, als es an der Tür klopfte.
»Wenn es der Lumpensammler ist, schick ihn weg, hörst du!«, rief Tante Cord aus dem Nebenzimmer, wo sie gerade das Bettzeug wendete.
Aber es war nicht der Lumpensammler. Es war Maria, ihre Zofe auf Seafront, die am Boden zerstört zu sein schien. Das zweite Kleid, das Susan am Erntetag tragen sollte – das Seidenkleid für das Mittagessen beim Bürgermeister und den anschließenden Empfang –, sei ruiniert, sagte Maria, und ihr schiebe man nun die ganze Schuld dafür in die Schuhe. Sie werde nach Onnies Furt zurückgeschickt werden, wenn sie Pech habe, dabei sei sie die einzige Unterstützung für ihre Mutter und ihren Vater – ach, das alles sei hart, viel zu hart, das sei es. Könne Susan nicht mitkommen? Bitte?
Susan ging gern mit – derzeit war sie immer froh, wenn sie das Haus verlassen konnte, um der keifenden, quengeligen Stimme ihrer Tante zu entfliehen. Je näher Ernte rückte, so schien es, desto weniger konnten sie und Tante Cord einander ausstehen.
Sie nahmen Pylon, der mit Vergnügen zwei Mädchen trug, die in der Morgenkühle hintereinander auf ihm saßen, und Marias Geschichte war rasch erzählt. Susan begriff ziemlich schnell, dass Marias Lage auf Seafront nicht sonderlich gefährdet war; das kleine, dunkelhaarige Mädchen hatte lediglich ihrer angeborenen (und recht charmanten)
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