Der Dunkle Turm 4 - Glas
sage ich etwas, Alain. Ich sage: ›Sind wir jetzt fertig?‹ Und sie sagt: ›Nun… vielleicht ist da noch eine Kleinigkeit‹, und dann… dann…«
Alain drückte ihre Hände sanft und benutzte, was er in sich hatte, seine Gabe, die er in sie schickte. Sie versuchte halbherzig, sich ihm zu entziehen, aber er ließ sie nicht los. »Was dann? Was geschieht dann?«
»Sie hat ein kleines Medaillon aus Silber.«
»Ja?«
»Sie beugt sich dicht zu mir und fragt, ob ich sie hören kann. Ich kann ihren Atem riechen. Er stinkt nach Knoblauch. Und nach anderen Sachen, die noch schlimmer sind.« Susan verzog angewidert das Gesicht. »Ich sage, ich höre sie. Jetzt kann ich sehen. Ich sehe ihr Medaillon.«
»Ausgezeichnet, Susan«, sagte Alain. »Was kannst du sonst noch sehen?«
»Rhea. Sie sieht im Mondschein wie ein Totenschädel aus. Ein Totenschädel mit Haaren.«
»Götter«, murmelte Cuthbert und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sie sagt, ich soll zuhören. Ich sage, ich werde zuhören. Sie sagt, ich soll gehorchen. Ich sage, ich werde gehorchen. Sie sagt: ›Aye, prima, genau so, bist ein braves Mädchen.‹ Sie streichelt mein Haar. Die ganze Zeit. Meinen Zopf.« Susan hob träumend eine im Schatten der Gruft blasse Hand träge zu ihrem blonden Haar. »Und dann sagt sie, was ich tun soll, wenn meine Jungfernschaft dahin ist. ›Warte‹, sagt sie, ›bis er neben dir eingeschlafen ist. Und dann schneide dir das Haar auf dem Kopf ab. Jede Strähne. Bis zur Kopfhaut.‹«
Die Jungs sahen sie mit wachsendem Entsetzen an, als ihre Stimme zu der von Rhea wurde – die knurrende, winselnde Tonlage der alten Frau vom Cöos. Selbst das Gesicht – abgesehen von den kalten, verträumten Augen – war zu dem der alten Vettel geworden.
›»Schneid alles ab, Mädchen, jede Hurensträhne, aye, und geh so kahl zu ihm zurück, wie du aus deiner Mutter gekommen bist! Mal sehen, wie du ihm dann gefällst!‹«
Sie verstummte. Alain wandte Roland das bleiche Gesicht zu. Seine Lippen bebten, aber er hielt immer noch ihre Hand.
»Warum ist der Mond rosa?«, fragte Roland. »Warum ist der Mond rosa, wenn du versuchst, dich zu erinnern?«
»Es ist ihr Zauber.« Susan schien fast überrascht, fast fröhlich zu sein. Heimlichtuerisch. »Sie bewahrt ihn unter dem Bett auf, das tut sie. Sie weiß nicht, dass ich es gesehen habe.«
»Bist du dir da sicher?«
»Aye«, sagte Susan und fügte schlicht hinzu: »Sie hätte mich umgebracht, wenn sie es gewusst hätte.« Sie kicherte entsetzlich. »Rhea bewahrt den Mond in einer Kiste unter ihrem Bett auf.« Sie trug es mit der Singsangstimme eines kleinen Kindes vor.
»Einen rosa Mond«, sagte Roland.
»Aye.«
»Unter dem Bett.«
»Aye.« Diesmal entzog sie Alain die Hände. Sie beschrieb in der Luft einen Kreis, und als sie zu ihm aufschaute, kam wie ein Krampf der grässliche Ausdruck von Habgier über ihr Gesicht. »Ich hätte ihn gern, Roland. Das hätte ich. Hübscher Mond! Ich habe ihn gesehen, als sie mich Holz holen geschickt hat. Durch ihr Fenster. Sie hat… jung ausgesehen.« Dann, noch einmal: »Ich hätt ihn wirklich gern.«
»Nein – bestimmt nicht. Aber er ist unter ihrem Bett?«
»Aye, an einem magischen Ort, den sie mit Zaubersprüchen erschafft.«
»Sie besitzt ein Stück von Maerlyns Regenbogen«, sagte Cuthbert mit erstaunter Stimme. »Die alte Hexe hat das, wovon uns dein Da’ erzählt hat – kein Wunder, dass sie all das weiß, was sie weiß!«
»Müssen wir noch mehr aus ihr herausbringen?«, fragte Alain. »Ihre Hände sind ganz kalt geworden. Ich halte sie nicht gern in dieser Tiefe. Sie hat sich gut gehalten, aber…«
»Ich glaube, wir sind fertig.«
»Soll ich ihr befehlen, alles zu vergessen?«
Roland schüttelte sofort den Kopf – ob gut oder schlecht, sie waren ein Ka-Tet. Er nahm ihre Finger, die wirklich kalt waren, in die Hand.
»Susan?«
»Aye, Liebster.«
»Ich werde jetzt einen Vers aufsagen. Wenn ich damit fertig bin, wirst du dich an alles erinnern, so wie wir es schon einmal getan haben. Alles klar?«
Sie lächelte und schloss die Augen. »Vogel und Bär und Fisch und Hase…«
Lächelnd sprach Roland zu Ende: »Lies meiner Liebsten jeden Wunsch von der Nase.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Du«, sagte sie wieder und küsste ihn. »Immer noch du, Roland. Du bist immer noch alles, was ich mir wünsche, mein Liebster.«
Roland konnte nicht anders und legte die Arme um sie.
Cuthbert wandte sich ab. Alain
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