Der Dunkle Turm 4 - Glas
Sonnenstrahl«, sagte jemand. Einen Augenblick lang versuchte ihr bestürzter Verstand im Halbschlaf zu glauben, es wäre gestern, und Maria wolle sie dazu bewegen, aufzustehen und Seafront zu verlassen, bevor die Mörder von Bürgermeister Thorin und Kanzler Rimer zurückkehrten und auch sie töteten.
Vergebens. Sie schlug die Augen nicht im kräftigen Licht des Vormittags auf, sondern im aschfahlen Schimmer der Morgendämmerung. Keine Frauenstimme war das gewesen, sondern die eines Mannes. Und keine Hand, die sie an der Schulter schüttelte, sondern der Lauf eines Revolvers im Nacken.
Sie schaute auf und sah ein schmales, von weißem Haar umrahmtes Gesicht voller Falten. Lippen, kaum mehr als eine Narbe. Augen im selben blassblauen Farbton wie die Rolands. Eldred Jonas. Und der Mann, der hinter ihm stand, hatte ihren Da’ einst in glücklicheren Zeiten gelegentlich zu einem Gläschen eingeladen: Hash Renfrew. Ein dritter Mann, einer von Jonas’ Ka-Tet, verschwand gerade geduckt in der Hütte. Lähmende Angst breitete sich in ihrer Leibesmitte aus – teils um sie, teils um Sheemie. Sie war sich nicht sicher, ob der Junge überhaupt begreifen würde, wie ihnen geschah. Das sind zwei der drei Männer, die ihn töten wollten, dachte sie. So viel wird er begreifen.
»Da wärst du ja, Sonnenschein, na endlich«, sagte Jonas freundschaftlich, während sie den Nebel des Schlafs fortblinzelte. »Gut! Du solltest hier draußen, so ganz allein, kein Nickerchen halten, so eine hübsche Sai wie du. Aber keine Bange, ich werde dafür sorgen, dass du dorthin zurückkehrst, wo du hingehörst.«
Er schaute auf, als der Rothaarige mit dem Mantel aus der Hütte kam. Allein. »Was hat sie da drinnen, Clay? Irgendwas Wichtiges?«
Reynolds schüttelte den Kopf. »Alles ruhig im Stall, würde ich sagen.«
Sheemie, dachte Susan. Wo bist du, Sheemie?
Jonas streckte die Hand aus und streichelte kurz eine ihrer Brüste. »Hübsch«, sagte er. »Zart und anmutig. Kein Wunder, dass Dearborn dich mag.«
»Nehmt Eure dreckige blau markierte Hand von mir, Ihr Dreckskerl!«
Jonas gehorchte lächelnd. Er drehte den Kopf und betrachtete den Esel. »Den kenne ich doch! Er gehört meiner guten Freundin Coral. Zu allem anderen bist du nun auch noch zur Viehdiebin geworden! Eine Schande, eine Schande, diese jüngere Generation. Finden Sie nicht auch, Sai Renfrew?«
Aber der alte Freund ihres Vaters sagte nichts. Sein Gesicht blieb bemüht ausdruckslos, und Susan dachte, dass er sich vielleicht ein ganz kleines bisschen schämte, hier zu sein.
Jonas drehte sich wieder zu ihr um und verzog die dünnen Lippen zur Nachahmung eines gütigen Lächelns. »Nun, ich glaube, wenn man gemordet hat, fällt es einem leicht, einen Esel zu stehlen, was?«
Sie schwieg und beobachtete nur, wie Jonas die Nüstern von Capi streichelte.
»Was haben sie eigentlich alles mitgeschleppt, diese Jungs, dass ein Esel erforderlich war, es zu tragen?«
»Leichentücher«, sagte sie mit tauben Lippen. »Für Euch und alle Eure Freunde. Und welch eine beängstigend große Last es gewesen ist – hätte dem armen Tier fast den Rücken gebrochen!«
»In dem Land, wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort«, sagte Jonas, der immer noch lächelte. »Kluge Mädchen kommen in die Hölle. Schon mal gehört?« Er streichelte weiter Capis Nase. Dem Esel schien es zu gefallen; er hatte den Hals ganz lang gemacht und die dummen kleinen Augen vor Wonne halb geschlossen. »Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass Burschen, die ihr Lasttier entladen, unter sich aufteilen, was es getragen hat, und dann weiterreiten, für gewöhnlich nicht zurückkommen?«
Susan sagte nichts.
»Du bist auf dem Trockenen sitzen lassen worden, Sonnenschein. Schnell gefickt ist schnell vergessen, so traurig es ist, das zu sagen. Weißt du, wohin sie gegangen sind?«
»Aye«, sagte sie. Ihre Stimme klang leise, war kaum mehr als ein Flüstern.
Jonas schaute zufrieden drein. »Wenn du es verrätst, wird es vielleicht einfacher für dich. Meinen Sie nicht auch, Renfrew?«
»Aye«, sagte Renfrew. »Sie sind Verräter, Susan – für den Guten Mann. Wenn du weißt, wo sie sind und was sie im Schilde führen, dann sag es uns.«
Susan ließ Jonas nicht aus den Augen, als sie sagte: »Kommt näher.« Ihre tauben Lippen wollten sich nicht bewegen, und es hörte sich an wie »Gomd nähr«, aber Jonas verstand sie, beugte sich nach vorn und streckte dabei den Hals, wodurch er eine absurde Ähnlichkeit mit
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