Der Dunkle Turm 4 - Glas
solle.
2
Etwa fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo Roland schlief und seine Träume träumte, lag Susan Delgado in ihrem Bett, schaute zum Fenster hinaus und sah, wie der Alte Stern langsam in der Dämmerung verblasste. Der Schlaf war jetzt ebenso fern wie zuvor, als sie sich hingelegt hatte, und sie spürte ein Pochen zwischen den Beinen, wo die alte Frau sie angefasst hatte. Es war eine Ablenkung, aber nicht mehr unangenehm, weil sie es nun mit dem Jungen in Verbindung brachte, den sie auf der Straße getroffen und im Licht der Sterne impulsiv geküsst hatte. Jedes Mal, wenn sie die Beine bewegte, wurde das Pochen zu einem kurzen, süßen Schmerz.
Als sie nach Hause gekommen war, hatte Tante Cord (die in einer gewöhnlichen Nacht schon eine Stunde zuvor zu Bett gegangen wäre) in ihrem Schaukelstuhl am – um diese Jahreszeit erloschenen und kalten und von Asche gereinigten – Kamin gesessen und ein Spitzendeckchen auf dem Schoß liegen gehabt, das auf ihrem altmodischen schwarzen Kleid wie Gischt wirkte. Sie klöppelte mit einer Geschwindigkeit, die Susan nahezu übernatürlich vorkam, und hatte nicht aufgeschaut, als die Tür aufging und ihre Nichte, gefolgt von einer Windbö, hereinkam.
»Ich hatte dich schon vor einer Stunde zurückerwartet«, sagte Tante Cord. Und dann, obwohl es sich nicht so anhörte: »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Aye!«, sagte Susan, und dann nichts mehr. Sie dachte, in jeder anderen Nacht hätte sie eine ihrer zaghaften Entschuldigungen präsentiert, die selbst in ihren eigenen Augen stets verlogen anmuteten – eine Wirkung, die Tante Cord ihr ganzes Leben lang bei ihr erzielt hatte –, aber dies war keine gewöhnliche Nacht. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine solche Nacht erlebt. Sie stellte fest, dass sie Will Dearborn nicht vergessen konnte.
Da hatte Tante Cord aufgesehen, und ihre dicht beieinander stehenden Knopfaugen hatten stechend und fragend über der scharfen Klinge des Nasenrückens geblickt. Manches hatte sich nicht verändert, seit Susan zum Cöos aufgebrochen war; sie konnte den Blick ihrer Tante immer noch spüren, der über ihr Gesicht und ihren Leib strich wie winzige Bürsten mit scharfen Borsten.
»Was hat dich so lange aufgehalten?«, fragte Tante Cord. »Gab es Schwierigkeiten?«
»Keine Schwierigkeiten«, hatte Susan geantwortet, aber einen Augenblick lang dachte sie daran, wie die Hexe neben ihr an der Tür gestanden und Susans Zopf durch die knotige Röhre einer locker geballten Faust hatte gleiten lassen. Sie entsann sich, dass sie hatte gehen wollen, und sie entsann sich, dass sie Rhea gefragt hatte, ob sie jetzt fertig seien.
Nun, vielleicht ist da noch eine winzige Sache, hatte die alte Frau gesagt… glaubte Susan jedenfalls. Aber was war diese Kleinigkeit gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber was spielte es schon für eine Rolle? Sie war Rhea los, bis Thorins Kind ihren Bauch wölben würde… Und wenn das Baby frühestens in der Erntenacht gemacht werden konnte, würde sie frühestens im tiefsten Winter auf den Cöos zurückkehren müssen. Eine Ewigkeit! Und es würde noch länger dauern, wenn sie nicht gleich empfangen würde…
»Ich bin langsam nach Hause gegangen, Tante. Das ist alles.«
»Und weshalb schaust du dann so aus?!«, hatte Tante Cord gefragt und die dünnen Brauen gegen die senkrechte Linie zusammengezogen, die ihre Stirn furchte.
»Wie denn?«, hatte Susan gefragt, ihre Schürze abgenommen, die Träger zusammengeknotet und sie am Haken an der Küchentür aufgehängt.
»Gerötet. Schaumig. Wie Milch frisch aus der Kuh.«
Sie hätte fast gelacht. Tante Cord, die von Männern so wenig wusste wie Susan von den Sternen und Planeten, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Gerötet und schaumig, ganz genau so fühlte sie sich. »Wahrscheinlich liegt es nur an der Nachtluft«, hatte sie gesagt. »Ich habe einen Meteor gesehen, Tante. Und ich habe die Schwachstelle gehört. Das Geräusch ist heute Nacht sehr laut.«
»Aye?«, hatte ihre Tante ohne großes Interesse gesagt, um dann zu dem Thema zurückzukehren, das sie wirklich interessierte. »Hat es wehgetan?«
»Ein wenig.«
»Hast du geschrien?«
Susan schüttelte den Kopf.
»Gut. Besser so. Immer besser so. Ich habe gehört, es gefällt ihr, wenn sie schreien. Also, Sue – hat sie dir etwas gegeben? Hat die alte Schachtel dir etwas gegeben?«
»Aye.« Sie griff in ihre Tasche und holte den Zettel heraus, auf dem
geschrieben
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