Der Dunkle Turm 4 - Glas
stand. Sie streckte ihn aus, und ihre Tante ergriff ihn mit einem gierigen Blick. Cordelia war in den vergangenen Monaten zuckersüß zu ihr gewesen, aber jetzt, wo sie hatte, was sie wollte (und nachdem Susan zu weit gegangen war und zu viel versprochen hatte, um noch einen Rückzieher machen zu können), war sie wieder zu der giftigen, hochmütigen und häufig misstrauischen Frau geworden, mit der Susan aufgewachsen war; die Frau, die von ihrem phlegmatischen Das-Leben-macht-was-es-will-Bruder zu allwöchentlichen Wutausbrüchen gereizt worden war. In gewisser Weise war das eine Erleichterung. Es war aufreibend gewesen, dass Tante Cordelia Tag für Tag Sybilla Sonnenschein gespielt hatte.
»Aye, aye, da ist ihr Zeichen, in Ordnung«, hatte Susans Tante gesagt und mit den Fingern über die untere Hälfte des Papiers gestrichen. »Es soll einen Teufelshuf darstellen, sagen manche, aber was schert uns das, hm, Sue? Sie mag ein garstiges, abscheuliches Geschöpf sein, aber sie hat es zwei Frauen möglich gemacht, noch ein bisschen länger in der Welt zurechtzukommen. Und du wirst sie nur noch einmal aufsuchen müssen, wahrscheinlich gegen Jahresende, wenn du empfangen hast.«
»Es wird später sein«, hatte Susan ihr gesagt. »Ich soll ihm erst beiwohnen, wenn der Dämonenmond voll ist. Nach dem Erntejahrmarkt und dem Freudenfeuer.«
Tante Cord hatte sie mit großen Augen und offenem Mund angesehen. »Das hat sie gesagt?«
Willst du mich etwa eine Lügnerin nennen, Tantchen?, hatte sie mit einer Schärfe gedacht, die ihr gar nicht ähnlich sah; normalerweise entsprach ihr Naturell mehr dem ihres Vaters.
»Aye.«
»Aber warum? Warum so lange?« Tante Cord war eindeutig außer sich, eindeutig enttäuscht. Bisher waren acht Silber- und vier Goldstücke bei der Sache herausgesprungen; sie waren dort versteckt, wo Tante Cord immer ihre Barschaft aufbewahrte (und Susan vermutete, dass das nicht wenig war, obschon Cordelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit Armut vorgab), und doppelt so viel stand noch aus… und würde fällig werden, sobald das blutbefleckte Laken in die Waschküche im Haus des Bürgermeisters gebracht werden würde. Noch einmal dieselbe Summe würde bezahlt werden, wenn Rhea das Baby und dessen Unversehrtheit bestätigte. Alles in allem eine Menge Geld. Eine große Menge für ein kleines Kaff wie dieses und kleine Leute wie sie. Und nun wurde die Auszahlung so weit hinausgeschoben…
Dann kam eine Sünde, um derentwillen Susan gebetet hatte (wenn auch ohne rechte Inbrunst), bevor sie ins Bett gegangen war: Sie hatte sich über den betrogenen, verzweifelten Gesichtsausdruck von Tante Cord gefreut – den Ausdruck eines Geizhalses, dem man einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
»Warum so lange!«, wiederholte sie.
»Ich nehme an, du könntest auf den Cöos gehen und die Hexe fragen.«
Cordelia Delgado hatte die ohnehin dünnen Lippen so fest zusammengepresst, dass sie beinahe verschwanden. »Bist du unverschämt, Miss? Bist du unverschämt zu mir?«
»Nein. Ich bin viel zu müde, um unverschämt zu jemandem zu sein. Ich möchte mich waschen – ich kann immer noch ihre Hände an mir spüren, das kann ich –, und ich will ins Bett.«
»Dann tu es. Vielleicht können wir uns morgen auf damenhaftere Weise darüber unterhalten. Und natürlich müssen wir zu Hart gehen.« Sie faltete das Papier zusammen, das Rhea Susan gegeben hatte, schien erfreut zu sein, dass sie Hart Thorin besuchen durfte, und bewegte die Hand zur Tasche ihres Kleides.
»Nein«, sagte Susan mit ungewöhnlich schneidender Stimme – so schneidend, dass die Hand ihrer Tante in der Bewegung erstarrte. Cordelia hatte sie unverhohlen erschrocken angesehen. Susan fühlte sich unter diesem Blick etwas verlegen, aber sie hatte den Blick nicht gesenkt, und ihre Hand zitterte nicht, als sie sie ausstreckte.
»Ich bin diejenige, die das aufbewahren soll, Tante!«
»Wer hat dir gesagt, dass du so sprechen sollst!«, hatte Tante Cord mit einer vor Entrüstung beinahe winselnden Stimme gefragt – Susan vermutete, dass es einer Blasphemie gleichkam, aber einen Augenblick lang hatte Tante Cords Stimme sie an das Geräusch der Schwachstelle erinnert. »Wer hat dir gesagt, dass du so mit der Frau sprechen sollst, die ein mutterloses Kind großgezogen hat? Mit der Schwester des armen toten Vaters dieses Mädchens?«
»Du weißt, wer«, sagte Susan. Sie hielt die Hand immer noch ausgestreckt. »Ich soll es aufbewahren, und ich soll
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