Der Dunkle Turm 6 - Susannah
dabei.«
Er riss das oberste Blatt von seinem Block ab, trat an den Metallwagen und steckte den Zettel unter einen schwarzen Fensterrutscher, der auf der verglasten Vorderfront des Wagens ruhte.
Susannah, amüsiert: Er kriegt einen Strafzettel. Und das offenbar nicht zum ersten Mal.
Mia, wider Willen vorübergehend abgelenkt: Was steht auf der Seite seines Wagens, Susannah?
Es folgte eine leichte Verschiebung, weil Susannah teilweise nach vorn kam und die Augen zusammenkniff. Für Mia war das ein seltsames Gefühl – wie ein leichtes Kitzeln tief im Kopf.
Susannah, die weiter amüsiert wirkte: Da steht KIRCHE DER HEILIGEN GOTT-BOMBE, Rev. Earl Harrigan. Und außerdem: IHRE SPENDEN WERDEN IM HIMMEL VERGOLDEN.
Was soll Himmel hier bedeuten?
Das ist nur eine andere Bezeichnung für die Lichtung am Ende des Pfades.
Aha.
Wachbüttel Benzyck, dessen beachtlicher Hintern die blaue Uniformhose ausbeulte, schlenderte mit auf den Rücken gelegten Händen wie ein Mann weiter, der seine Pflicht getan hat. Rev. Harrigan rückte inzwischen seine Staffeleien zurecht. Das Bild auf einer davon zeigte einen Mann, der von einem Kerl in einer weißen Robe aus einem Gefängnis geführt wurde. Ein weiteres Bild zeigte, wie Weißrobe sich von einem Ungeheuer mit rotem Balg und Hörnern auf dem Kopf abwandte. Das gehörnte Ungeheuer war anscheinend stinksauer auf Sai Weißrobe.
Susannah, ist dieses rote Ding so, wie die Bewohner dieser Welt den Scharlachroten König sehen?
Susannah: Ich glaube schon. Das soll Satan sein – Herrscher der Unterwelt. Wie wär’s, wenn du dir von dem Gotteskerl ein Taxi besorgen lässt? Nimm dazu die Schildkröte.
Wieder misstrauisch (dagegen war Mia offenbar machtlos): Sagst du das?
Spreche wahrhaftig! Aye! Sage Jesus Christus, Weib!
Schon gut, schon gut. Mias Stimme klang leicht verlegen. Sie ging auf Rev. Harrigan zu und holte dabei die geschnitzte Schildkröte aus der Tasche.
18
Was zu tun war, fiel Susannah blitzartig ein. Sie zog sich von Mia zurück (sollte die Frau es nicht schaffen, mithilfe der Zauberschildkröte ein Taxi zu bekommen, war sie sowieso ein hoffnungsloser Fall) und stellte sich mit fest zusammengekniffenen Augen den Dogan vor. Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie dort. Sie griff sich das Mikrofon, mit dem sie Eddie zuletzt gerufen hatte, und betätigte den Kippschalter.
»Harrigan!«, sagte sie ins Mikrofon. »Reverend Earl Harrigan! Hörst du mich? Bitte kommen, Süßer. Bitte kommen!«
19
Reverend Harrigan unterbrach seine Arbeit lange genug, um zu beobachten, wie eine Schwarze – noch dazu ein entzückend langbeiniges Ding, lobet den Herrn – in ein Taxi stieg. Das Taxi fuhr davon. Er hatte noch einiges zu erledigen, bevor er mit seiner allabendlichen Predigt beginnen konnte – sein kleiner Dialog mit Officer Benzyck war nur der Startschuss gewesen –, aber dennoch stand er einfach nur da und beobachtete, wie die Schlusslichter des Taxis flimmernd schwächer wurden.
War ihm soeben etwas zugestoßen?
War es…? War es möglich, dass…?
Rev. Harrigan sank auf dem Gehsteig auf die Knie, ohne auf die vorbeigehenden Passanten zu achten (von denen die meisten ihn ebenso wenig beachteten). Er faltete seine großen alten Lobet-den-Herrn-Hände und hob sie bis unters Kinn. Er wusste, dass die Bibel sagte, das Gebet sei eine Privatangelegenheit, die am besten im stillen Kämmerlein verrichtet werde, und hatte weiß Gott viel Zeit damit verbracht, in seinem eigenen auf den Knien zu liegen, aber er glaubte auch, Gott wolle, dass die Menschen von Zeit zu Zeit wieder einen Betenden sahen, weil die meisten von ihnen – o großer Gott! – vergessen hatten, wie einer aussah. Und es gab keinen besseren, keinen schöneren Ort für ein Gespräch mit Gott als genau diese Stelle hier an der Ecke Second und Forty-sixth. Hier war Gesang zu hören, süß und rein. Er richtete den Geist auf, klärte den Verstand… und klärte, ganz nebenbei bemerkt, auch die Haut. Es war nicht die Stimme Gottes, und Rev. Harrigan war nicht so blasphemisch dumm, dass er das gedacht hätte, aber er stellte sich vor, es seien Engel. Ja, sagt Gott, sagt Gott-Bombe, die Stimme der Se-ra-phim!
»Gott, hast du eben eine kleine Gott-Bombe auf mich abgeworfen? Ich frage dich: War die Stimme, die ich eben gehört habe, deine oder meine eigene?«
Keine Antwort. So viele Fragen blieben so oft ohne Antwort. Darüber würde er später nachdenken. Inzwischen musste er seine
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