Der Dunkle Turm 6 - Susannah
lautlos und ging zum Wandtelefon hinüber. Er verdrehte die Telefonschnur zwischen den Fingern und drückte sie zusammen, bis sie brach.
»Eine Rose, ein Stein, eine nichtgefundene Tür«, wiederholte King. »Ja, das könnte Wolfe sein. Maxwell Perkins hat ihn ›eine göttliche Äolsharfe‹ genannt. O Verlorener und vom Wind Betrauerter! All die vergessenen Gesichter! O Discordia!«
»Wie kommt eine Geschichte zu Euch, Sai?«, fragte Roland ruhig.
»Ich mag diese New Ager nicht… die Kristallschwenker… all diese Egal-Hauptsache-es-liest-sich-gut-Schreiberlinge… aber sie nennen es Channeling, und das… so fühlt es sich an… wie etwas in einem Kanal…«
»Oder entlang einem Balken?«, fragte Roland.
»Alle Dinge dienen dem Balken«, sagte der Schriftsteller und seufzte. Es war ein in seiner Traurigkeit schrecklicher Laut. Eddie spürte seinen ganzen Rücken in hilflosen Wellen von Gänsehaut prickeln.
11
Stephen King stand in einem Strahl staubiger Nachmittagssonne. Sie beleuchtete seine Wange, die Kurve der linken Augenhöhle, das Grübchen in seinem Mundwinkel. Sie verwandelte jedes weiße Haar in der linken Hälfte seines Barts in eine Linie aus Licht. Er stand in Licht, und das ließ die schwache Dunkelheit, die ihn umgab, noch stärker hervortreten. Seine Atmung hatte sich schätzungsweise auf drei bis vier Atemzüge pro Minute verlangsamt.
»Stephen King«, sagte Roland. »Siehst du mich?«
»Heil, Revolvermann, ich sehe dich sehr wohl.«
»Wann hast du mich das erste Mal gesehen?«
»Erst heute.«
Roland wirkte jetzt überrascht und leicht frustriert. Das war offensichtlich nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Dann sprach King weiter.
»Ich habe Cuthbert gesehen, nicht dich.« Eine Pause. »Er hat mit dir Brot gebrochen und unter dem Galgen verstreut. Das steht in dem Teil, der schon fertig ist.«
»Aye, das haben wir getan. Als Hax der Koch baumeln musste. Damals waren wir ziemlich junge Burschen. Hat Bert dir diese Geschichte erzählt?«
King gab keine Antwort darauf. »Ich habe Eddie gesehen. Ich habe ihn sehr wohl gesehen.« Eine Pause. »Cuthbert und Eddie sind Zwillinge.«
»Roland…«, begann Eddie halblaut. Roland brachte ihn mit nachdrücklichem Kopfschütteln zum Schweigen und legte die Patrone, mit der er King hypnotisiert hatte, auf den Küchentisch. King starrte weiter Rolands Handrücken an, als würde er sie noch dort sehen. Vermutlich tat er das auch. Sonnenstäubchen tanzten um sein dunkles, zottiges Haupt.
»Wo warst du, als du Cuthbert und Eddie gesehen hast?«
»In der Scheune.« Kings Stimme wurde leiser. Seine Lippen hatten zu zittern angefangen. »Tantchen hat mich hinausgeschickt, weil wir versucht haben wegzulaufen.«
»Wer ist wir?«
»Mein Bruder Dave und ich. Sie haben uns geschnappt und zurückgebracht. Sie haben gesagt, dass wir ganz, ganz böse Jungen sind.«
»Und ihr musstet in die Scheune.«
»Ja, und Holz sägen.«
»Das war eure Strafe.«
»Ja.« Aus Kings rechtem Augenwinkel quoll eine Träne. Sie kullerte über die Wange in den Bart. »Die Hühner sind alle tot.«
»Die Hühner in der Scheune?«
»Ja, die.« Weitere Tränen folgten der ersten.
»Woran sind sie gestorben?«
»Onkel Oren sagt, dass es die Geflügelpest war. Ihre Augen stehen offen. Sie sind… ein bisschen unheimlich.«
Oder vielleicht auch mehr als nur ein bisschen, dachte Eddie, wenn man Kings Tränen und die Blässe seiner Wangen berücksichtigte.
»Du darfst die Scheune nicht verlassen?«
»Nicht, bevor ich meinen Teil des Holzes gesägt habe. David ist mit seinem fertig. Jetzt bin ich dran. In den Hühnern sind Spinnen. In ihren Eingeweiden, kleine rote Spinnen. Wie rote Pfefferkörner. Wenn sie sich auf mich setzen, bekomme ich die Pest und sterbe. Nur kehre ich dann zurück.«
»Wie das?«
»Dann bin ich ein Vampir. Ich bin sein Sklave. Vielleicht sein Schreiber. Sein Hofschreiber.«
»Wem würdest du dann dienen?«
»Dem Herrn der Spinnen. Dem Scharlachroten König, im Turm gefangen.«
»O Gott, Roland«, flüsterte Eddie. Ihm schauderte. Worauf waren sie hier gestoßen? In welchem Wespennest hatten sie gestochert? »Sai King, Steve, wie alt waren Sie… bist du?«
»Ich bin sieben.« Eine Pause. »Ich habe mir in die Hose gemacht. Ich will nicht, dass die Spinnen mich beißen. Die roten Spinnen. Aber dann bist du gekommen, Eddie, und ich war frei.« Er lächelte strahlend, aber seine Wangen glänzten tränenfeucht.
»Schläfst du,
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