Der Dunkle Turm 6 - Susannah
heraus und setzte ihn auf dem staubigen Höhlenboden ab. Dann beugte er sich mit dicht über den Knien aufgestützten Händen zu ihm hinunter. Oy sah auf und machte einen langen Hals, sodass ihre Gesichter sich fast berührten. Und nun sah Roland etwas Außergewöhnliches: nicht etwa Tränen in Jakes Augen, sondern welche, die in Oys Augen aufzusteigen begannen. Ein weinender Billy-Bumbler. Das war die Art Geschichte, die man zu fortgeschrittener Stunde, wenn alle schon betrunken waren, in einem Saloon hören konnte – der treue Bumbler, der um seinen scheidenden Herrn weinte. Solche Storys glaubte man nicht, sagte es aber nie, um keinen Streit (oder gar eine Schießerei) zu provozieren. Trotzdem passierte es hier; er konnte es mit eigenen Augen sehen, und die Szene rührte ihn beinahe selbst zu Tränen. War das Ganze wieder nur ein Bumbler-Nachäffen, oder verstand Oy wirklich, was hier vorging? Roland hoffte von ganzem Herzen, dass Ersteres der Fall war.
»Oy, du musst jetzt eine Zeit lang bei Cantab bleiben. Bei ihm geht’s dir gut. Er ist ein Kumpel.«
»Tab!«, wiederholte der Bumbler. Die Tränen rollten die Schnauze herab und färbten den puderigen Staub, in dem er stand, mit geldstückgroßen Tropfen dunkel. Roland fand die Tränen des kleinen Tiers auf einzigartige Weise schrecklich – irgendwie noch schlimmer, als es die eines Kindes gewesen wären. »Ake! Ake!«
»Nein, wir müssen uns jetzt trennen«, sagte Jake und wischte sich mit den Handballen die Tränen aus den Augen. Dabei hinterließ er schmutzige Streifen, die wie eine Kriegsbemalung bis zu den Schläfen reichten.
»Nein! Ake!«
»Wir müssen aber. Und du bleibst bei Cantab. Ich komme aber zurück, um dich zu holen, Oy – wenn ich nicht sterbe, komme ich zurück.« Er drückte den Bumbler noch einmal fest an sich, dann richtete er sich auf. »Geh zu Cantab. Das ist der dort drüben.« Jake zeigte auf den Manni. »Los, geh schon!«
»Ake! Tab!« Das Elend in dieser Stimme war unüberhörbar. Oy verharrte noch einen Augenblick auf der Stelle. Dann machte der Bumbler weinend – oder nur Jakes Tränen imitierend, wie Roland hoffte – kehrt, trottete zu Cantab hinüber und setzte sich zwischen die staubigen Kurzstiefel des jungen Mannes.
Eddie wollte Jake einen Arm um die Schultern legen, aber Jake schüttelte ihn ab und trat ein paar Schritte beiseite. Eddie machte ein verwirrtes Gesicht. Roland erhielt zwar weiter sein Watch-Me-Gesicht aufrecht, aber innerlich erfüllte ihn grimmige Befriedigung. Noch nicht mal dreizehn, nein, aber trotzdem schon stahlhart, wenn es an der Zeit war.
Und es wurde Zeit.
»Henchick?«
»Aye. Willst du vorher nicht noch ein Gebet sprechen, Roland? Zu dem Gott, an den du glaubst?«
»Ich glaube an keinen Gott«, sagte Roland. »Ich glaube an den Turm, aber zu dem bete ich nicht.«
Einige von Henchicks ‘migos waren sichtlich schockiert, aber der Alte nickte nur, als hätte er nichts anderes erwartet. Er sah zu Callahan hinüber. »Pere?«
Callahan sagte: »Gott, deine Hand, dein Wille.« Er machte das Kreuzeszeichen und nickte Henchick zu. »Wenns losgehen soll, dann los!«
Henchick trat vor, berührte den Kristallknopf der nichtgefundenen Tür und sah dann zu Roland hinüber. Seine Augen glänzten. »Höre mich noch ein letztes Mal an, Roland von Gilead.«
»Ich höre dich sehr wohl an.«
»Ich bin Henchick von den Manni Kra Redpath-a-Sturgis. Wir sind Weitseher und Weitreisende. Wir sind Seefahrer mit dem Ka-Wind. Willst auch du mit diesem Wind reisen? Du und die deinigen?«
»Aye, wohin er uns trägt.«
Henchick wickelte sich die Kette des Branni-Lots um die Hand, und Roland spürte sofort, dass in dieser Höhle irgendeine Kraft entfesselt worden war. Sie war noch schwach, nahm aber stetig zu. Blühte auf wie eine Rose.
»Wie viele Besuche wollt ihr machen?«
Roland hielt zwei der verbliebenen Finger der rechten Hand hoch. »Zwei. Twim in der Sprache des Eld.«
»Zwei oder twim, das ist einerlei«, sagte Henchick. »Commala-come-zwei.« Er erhob die Stimme. »Kommt, ihr Manni! Come-commala, vereinigt eure Kraft mit meiner! Kommt und haltet euer Versprechen! Kommt und begleicht unsere Schuld bei diesen Revolvermännern! Helft mir, sie auf den Weg zu bringen! Jetzt!«
7
Bevor auch nur einer von ihnen anfangen konnte, die Tatsache zu registrieren, dass das Ka ihre Pläne verändert hatte, war das Ka bereits mit ihnen umgesprungen, wie es ihm beliebte. Anfangs erschien es jedoch
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