Der Dunkle Turm 6 - Susannah
»Dipolare Computer. Slo-Trans-Motoren.« Sie hielt inne. »Blaine der Mono. Aber nicht in unserer Welt.«
»Nein? Willst du behaupten, eure Welt sei davon ausgenommen? Was ist mit der Ankündigung in der Hotelhalle?« Die Kermesbeere platzte auf. Mia streifte die Haut ab, verschlang die Frucht und grinste wissend, während ihr der Saft übers Kinn lief.
»Ich dachte, du könntest nicht lesen«, sagte Susannah. Das gehörte jetzt zwar nicht hierher, aber im Augenblick fiel ihr nichts Besseres ein. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Bild des Ungeborenen zurück; zu diesen leuchtend blauen Augen. Revolvermannaugen.
»Aye, aber ich kenne meine Zahlen, und wenn es um deine Gedanken geht, kann ich diese recht gut lesen. Willst du etwa behaupten, du könntest dich nicht an das Schild in der Hotelhalle erinnern? Willst du mir das wirklich weismachen?«
Natürlich erinnerte sie sich daran. Nach jenem Ankündigungsplakat würde das Plaza-Park mit dem kommenden Monatsersten Bestandteil eines Unternehmens werden, das sich Sombra/North Central nannte. Und als sie nicht in unserer Welt gesagt hatte, hatte sie an 1964 gedacht – die Welt des Schwarz-Weiß-Fernsehens, der absurd sperrigen Computer in Zimmergröße und der Cops in Alabama, die nur allzu gern bereit waren, ihre Hunde auf Schwarze zu hetzen, die mit Protestmärschen für gleiches Stimmrecht demonstrierten. In den vergangenen fünfunddreißig Jahren hatten die Dinge sich sehr verändert. Man brauchte sich beispielsweise nur die Kombination aus Fernseher und Schreibmaschine anzusehen, an der die Eurasierin am Hotelempfang gearbeitet hatte – wie wollte Susannah wissen, dass das nicht ein dipolarer Computer war, der von einer Art Slo-Trans-Motor angetrieben wurde? Das konnte sie nicht.
»Sprich weiter«, forderte sie Mia auf.
Mia zuckte die Achseln. »Du gräbst dir dein eigenes Grab, Susannah. Du scheinst förmlich darauf versessen zu sein, und die Ursache ist immer die gleiche: Dein Glaube versagt, und du ersetzt ihn durch rationales Denken. Aber es gibt keine Liebe in Gedanken, nichts Bleibendes in Herleitungen, nur Tod im Rationalismus.«
»Was hat das alles mit deinem kleinen Kerl zu tun?«
»Das weiß ich nicht. Es gibt da so vieles, was ich nicht weiß.« Sie hob eine Hand und schnitt Susannah das Wort ab, bevor diese etwas sagen konnte. »Und nein, ich versuche nicht, Zeit zu schinden oder dich von dem wegzulocken, was du wissen möchtest; ich spreche lediglich, wie mein Herz es mir eingibt. Willst du das nun hören oder nicht?«
Susannah nickte. Sie wollte es hören – zumindest für eine Weile noch. Wenn sie aber nicht bald wieder auf das Baby zu sprechen kamen, würde sie das Gespräch selbst erneut darauf bringen.
»Die Magie verschwand. Maerlyn zog sich in seine Höhle in einer der Welten zurück, das Schwert des Eld wich in einer anderen den Feuerwaffen der Revolvermänner, und die Magie verschwand weiterhin. Und während die Jahre ihren Bogen durchmaßen, kamen große Alchemisten, große Wissenschaftler und große… was? – Techniker? Heißen die so? Jedenfalls große Denker, das meine ich, große Philosophen… Sie kamen zusammen und schufen die Maschinen, die den Betrieb der Balken übernahmen. Es waren großartige, aber auch sterbliche Maschinen. Die damaligen Denker ersetzten die Magie durch Maschinen, musst du wissen, und jetzt versagen die Maschinen. In manchen Welten haben große Seuchen ganze Bevölkerungen dezimiert.«
Susannah nickte. »Die Auswirkungen einer dieser Seuchen haben wir gesehen«, sagte sie ruhig. »Sie hieß dort Supergrippe.«
»Die Brecher des Scharlachroten Königs beschleunigen nur einen Vorgang, der bereits abläuft. Die Maschinen drehen durch. Auch das habt ihr selbst erlebt. Die damaligen Menschen haben geglaubt, es werde immer Menschen wie sie geben, die weitere Maschinen würden bauen können. Aber keiner von ihnen hat vorausgesehen, was passieren würde. Diese… diese allgemeine Erschöpfung.«
»Die Welt hat sich weiterbewegt.«
»Aye, Lady. Das hat sie getan. Und sie hat niemanden hinterlassen, der die Maschinen ersetzen könnte, die das letzte bisschen Magie in der Schöpfung erhalten, nachdem die Prim sich längst zurückgezogen hat. Die Magie ist verschwunden, und die Maschinen versagen. Bald wird auch der Dunkle Turm fallen. Möglicherweise ist ja noch Zeit für einen glänzenden Augenblick universellen rationalen Denkens, bevor das Dunkel seine ewige Herrschaft antritt. Wäre das nicht
Weitere Kostenlose Bücher