Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
zeigte dann mit angestrengtem Grinsen die Zähne. »Stahl! Yar! Er kann dieses Ding mit einem Dutzend seiner fliegenden Feuerkugeln treffen, ohne es zum Einsturz zu bringen. Er schafft es höchstens, die Verkleidung wegzusprengen und den Stahlkern freizulegen. Kapiert? Und ich glaube nicht, dass er seine Munition sinnlos vergeuden will. Er hat bestimmt nicht viel mehr, als ein Esel tragen kann.«
Bevor Patrick ihm zeigen konnte, dass er verstanden hatte, streckte Roland wieder den Kopf hinter dem unregelmäßigen Rand der Pyramide hervor. Er legte die Hände als Sprachrohr an den Mund und brüllte: »VERSUCH’S NOCH MAL, SAI! WIR SIND NOCH IMMER HIER, ABER VIELLEICHT HAST DU BEIM NÄCHSTEN WURF JA MEHR GLÜCK!«
Danach herrschte für einen Augenblick Schweigen, auf das schließlich ein wahnsinniger Schrei folgte: »IIIIIIIIIII!. WAG NICHT, MICH ZU VERSPOTTEN! WAG ES NICHT! IIIIIIIIIII!«
Nun hob wieder das anschwellende schrille Heulen an. Roland begrub Patrick unter sich – hinter der Pyramide, aber ohne sie zu berühren. Er befürchtete, dass sie beim Auftreffen des Schnaatzes stark genug vibrieren konnte, um eine Gehirnerschütterung hervorzurufen oder ihr weiches Körperinneres in Gelee zu verwandeln.
Nur traf der Schnaatz diesmal nicht die Pyramide. Stattdessen flog er an ihr vorbei und segelte bis über die Straße hinaus weiter. Roland wälzte sich von Patrick herab auf den Rücken. Sein Blick erfasste das verschwommene goldglänzende Objekt und registrierte, an welcher Stelle es umkehrte, um sich auf sein Ziel zu stürzen. Er schoss es aus der Luft wie eine Tontaube. Ein greller Lichtblitz, dann war es verschwunden.
»DUMM GELAUFEN, WIR SIND NOCH IMMER DA!«, rief Roland, wobei er sich bemühte, genau die richtige Nuance von belustigtem Spott in die Stimme zu legen. Was nicht sehr leicht war, wenn man brüllen musste, was die Lunge hergab.
Die Antwort bestand aus einem neuerlichen wahnsinnigen Schrei: »IIIIIIIII!« Roland staunte darüber, dass der Scharlachrote König sich mit diesem Gekreisch nicht selbst den Schädel spaltete. Er lud die verschossene Patrone nach – solange er konnte, würde er dafür sorgen, dass alle Kammern der Trommel stets voll waren – und vernahm dieses Mal ein zweifaches Heulen. Patrick stöhnte, wälzte sich in dem mit Steinbrocken durchsetzten Gras auf den Rauch und bedeckte den Kopf schützend mit den Händen. Roland blieb mit dem Rücken an die Pyramide aus Stahl und Stein gelehnt sitzen, ließ den langen Lauf des Sechsschüssers auf dem Oberschenkel ruhen und wartete entspannt. Zugleich konzentrierte er seine gesamte Willenskraft auf eine einzige Aufgabe. Als Reaktion auf dieses in großer Höhe näher kommende Heulen wollten seine Augen zu tränen beginnen, und das durfte er nicht zulassen. Sein unnatürlich scharfes Sehvermögen, für das er zu seiner Zeit so berühmt gewesen war, hatte er niemals mehr benötigt als in diesem Augenblick.
Seine blauen Augen blieben weiter klar, während die Schnaatze über sie hinweg bis zur Straße heulten. Diesmal kurvte einer links, der andere rechts zurück. Zudem flogen sie nun mit Ausweichbewegungen, indem sie unberechenbar von einer Seite auf die andere zickzackten. Was ihnen jedoch nichts nutzte. Roland wartete und saß mit ausgestreckten Beinen so da, dass seine abgewetzten alten Stiefel ein entspanntes V bildeten, während sein Herz gleichmäßig und langsam schlug und seine Augen alle Klarheit und alle Farben der Welt in sich aufnahmen (hätte er an diesem letzten Tag noch besser gesehen, hätte er, so glaubte er, sogar den Wind sehen können). Dann riss er die Waffe hoch, schoss beide Schnaatze aus der Luft und lud die beiden Kammern seines Revolvers bereits nach, als ihre Bilder noch mit seinem Herzschlag vor seinen Augen pulsierten.
Er beugte sich zur Kante der Pyramide hinüber, griff nach dem Fernglas, legte es auf eine Auskragung in geeigneter Höhe und sah damit zu seinem Feind hinüber. Der Scharlachrote König sprang ihm förmlich entgegen, und Roland sah zum ersten Mal im Leben genau das mit Augen, was er sich immer vorgestellt hatte: einen alten Mann mit gewaltiger, wächsern aussehender Hakennase; rote Lippen, die im schneeigen Weiß eines wallenden Bartes blühten; schneeweißes Haar, das über den Rücken des Scharlachroten Königs bis fast zu dessen hagerem Hintern hinabfiel. Die Augen in dem rosig angelaufenen Gesicht spähten zu den Pilgern hinüber. Der König trug eine leuchtend rote Robe, die hier
Weitere Kostenlose Bücher