Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
– jedenfalls der Talmiglanz, den der Scharlachrote König hatte aufbieten können – war verschwunden.
Masken ab, Masken ab, dachte sie müde. Die Gesellschaft war wundervoll, aber jetzt ist das Fest aus … und der Rote Tod herrscht über alles.
Sie berührte den Pickel neben ihrer Unterlippe und betrachtete dann die Fingerspitze. Sie erwartete, Eiter oder Blut oder beides zu sehen. Aber sie sah keines von beiden, was eine Erleichterung war.
»Wie viel davon glaubst du?«, fragte Susannah ihn.
»So ziemlich alles«, antwortete Roland.
»Dann ist er also dort. Oben im Turm.«
»Nicht im Turm. An der Außenseite gefangen.« Er lächelte. »Das ist ein großer Unterschied.«
»Wirklich? Und was hast du mit ihm vor?«
»Das weiß ich nicht.«
»Glaubst du, dass er tatsächlich in den Turm zurückgelangen und ihn bis ganz oben ersteigen könnte, wenn er irgendwie deine Revolver in die Hände bekommt?«
»Ja.« Die Antwort war unverzüglich gekommen.
»Und was willst du dagegen tun?«
»Nicht zulassen, dass er auch nur einen der beiden bekommt.« Er sagte das, als würde sich das von selbst verstehen, und Susannah gestand sich ein, dass dem vermutlich so war. Nur vergaß sie leider oft, wie gottverdammt wörtlich er alles meinte. Buchstäblich alles.
»Du hast davon gesprochen, Mordred im Schloss eine Falle zu stellen.«
»Ja«, sagte Roland, »aber wegen der Dinge, die wir dort gesehen, die wir dort erfahren haben, ist es mir nun besser vorgekommen, weiterzuziehen. Einfacher. Sieh her.«
Er zog seine Taschenuhr heraus und ließ den Sprungdeckel aufschnappen. Sie beobachteten beide, wie der Sekundenzeiger allein um seine Achse kreiste. Aber noch genauso schnell wie zuvor? Susannah konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber sie glaubte, dass dem nicht so war. Sie sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Roland auf.
»Die meiste Zeit geht sie noch richtig«, sagte Roland, »aber nicht mehr die ganze Zeit. Ich glaube, dass sie bei jedem sechsten oder siebten Umlauf eine Sekunde verliert. Insgesamt vielleicht drei bis sechs Minuten pro Tag.«
»Das ist nicht sehr viel.«
»Nein«, antwortete Roland und steckte die Uhr wieder ein, »aber es ist ein Anfang. Mordred soll meinetwegen tun, was er will. Der Dunkle Turm liegt gleich hinter den Weißen Landen, und ich habe vor, ihn zu erreichen.«
Susannah hatte Verständnis für seine Ungeduld. Sie konnte nur hoffen, dass diese Ungeduld ihn nicht zum Leichtsinn verleiten würde. Sonst fiel Mordred Deschains jugendliche Unerfahrenheit vielleicht nicht mehr so ins Gewicht. Wenn Roland zur falschen Zeit den rechten Fehler machte, würden sie, er und Oy den Dunklen Turm vielleicht nie zu sehen bekommen.
Ihre Überlegungen wurden durch ein gewaltiges Flattern hinter ihr unterbrochen. Kaum verdeckt war daraus ein Menschenlaut zu hören, der als Heulen begann und rasch zu einem Kreischen anstieg. Obwohl die Entfernung diesen Schrei abschwächte, waren das Entsetzen und die Schmerzen, die in ihm lagen, unüberhörbar. Schließlich brach er barmherzigerweise wieder ab.
»Der Lordkanzler des Scharlachroten Königs hat die Lichtung betreten«, sagte Roland.
Susannah sah sich nach dem Schloss um. Sie konnte seine schwärzlich roten Wälle, aber sonst nichts sehen. Sie war froh, dass sie nicht mehr sehen konnte.
Mordred sein hongrig, dachte sie. Ihr Herz raste, und sie glaubte, in ihrem ganzen Leben noch nie so verängstigt gewesen zu sein – nicht als sie während der Geburt neben Mia gelegen hatte, nicht einmal in der Schwärze unter Schloss Discordia.
Mordred sein hongrig … aber nun kriegt er Fressen.
7
Der alte Mann, der sein Leben als Austin Cornwell begonnen hatte und es als Rando Thoughtful beschließen würde, saß auf der dem Schloss zugekehrten Brückenhälfte. Die Krähen warteten über ihm, vielleicht weil sie spürten, dass die Aufregungen dieses Tages noch nicht vorbei waren. Thoughtful hatte es warm, was er seinem Kolani und der Tatsache verdankte, dass er sich einen Schluck Brandy gegönnt hatte, bevor er hinausgegangen war, um mit Roland und dessen schwarzer Lady zu sprechen. Nun … vielleicht stimmte das nicht ganz. Vielleicht waren es Brass und Compson (auch als Femalo und Fumalo bekannt) gewesen, die sich beide einen Schluck von des Königs bestem Brandy gegönnt hatten, bevor der ehemalige Lordkanzler von Los’ das letzte Drittel der Flasche geleert hatte.
Was immer der Grund dafür sein mochte, der Alte schlief jedenfalls ein und
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