Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
diese hier, die ich nie verloren habe.« Er griff in eine seiner Taschen und zeigte ihr eine Hand voll Aspirintabletten. Sie fand, dass sein Gesichtsausdruck dabei wahrhaft Ehrfurcht erkennen ließ, aber wer mochte ihm das verdenken? Möglicherweise verdankte er diesem Mittel, das er Astin nannte, sogar sein Leben. Astin und Cheflet.
Sie hievten ihre Beute auf die Ladefläche von Ho Fats Luxustaxi und transportierten sie zum Bach hinunter. Insgesamt waren es drei Fuhren. Nachdem sie die Tiere aufeinander gestapelt hatten, stellte Roland den abgetrennten Kopf des Jährlings so auf den Stapel, dass er sie mit seinen glasigen Augen anstarrte.
»Was willst du mit dem?«, fragte Susannah mit einer Spur Detta in der Stimme.
»Wir werden alle Gehirne brauchen, die wir bekommen können«, sagte Roland und hustete wieder trocken in seine geballte Faust. »Es ist eine schmutzige Art und Weise, die Arbeit zu erledigen, aber sie funktioniert und geht schnell.«
5
Nachdem sie ihre Beute am Ufer des eiskalten Bachs aufgestapelt hatten (»Wenigstens brauchen wir uns keine Sorgen wegen der Fliegen zu machen«, sagte Roland), machte der Revolvermann sich daran, Feuerholz zu sammeln. Susannah freute sich jetzt zwar auf ein Feuer, empfand dabei aber nicht mehr das schreckliche Bedürfnis wie in der Nacht zuvor. Sie hatte schwer geschuftet und fühlte sich zumindest vorerst behaglich warm. Sie versuchte, sich an ihre tiefe Verzweiflung, an jenes Gefühl zu erinnern, die Kälte krieche ihr in die Knochen und verwandle sie in Glas, aber das gelang ihr nicht. Weil der Körper die Eigenart hat, selbst die schlimmsten Dinge zu vergessen, vermutete sie, und ohne Mitwirkung des Körpers besitzt das Gehirn sozusagen nur noch verblasste Schnappschüsse als Erinnerung.
Bevor Roland richtig damit anfing, Feuerholz zu sammeln, suchte er das Ufer des eiskalten Bachs ab und grub schließlich einen faustgroßen Stein aus. Er gab ihn Susannah, die einen Daumen über die milchige, vom Wasser polierte Oberfläche gleiten ließ. »Quarz?«, fragte sie, aber das war es wohl nicht. Nicht ganz.
»Dieses Wort kenne ich nicht, Susannah. Wir nennen diesen Stein Chert. Er lässt sich zu primitiven, aber sehr nützlichen Werkzeugen verarbeiten: Beile, Messer, Spieße, Schaber. Heute brauchen wir Schaber. Und mindestens einen Hammer.«
»Was wir abschaben werden, ist klar, aber was werden wir hämmern?«
»Das zeige ich dir dann, aber kommst du erst noch einen Augenblick zu mir?« Roland kniete nieder und ergriff ihre kalte Hand. Gemeinsam wandten sie sich dem Hirschkopf zu.
»Wir danken dir für das, was wir empfangen werden«, sagte Roland zu dem Kopf, und Susannah empfand einen leichten Schauder. Genauso hatte ihr Vater immer das Tischgebet vor einem großen Mahl begonnen, wenn dort die ganze Familie versammelt gewesen war.
Unsere eigene Familie ist zerbrochen, dachte sie, ohne es jedoch auszusprechen; geschehen war geschehen. Sie antwortete mit den Worten, die sie als kleines Mädchen gelernt hatte: »Vater, wir danken dir.«
»Leite unsere Hände und leite unsere Herzen, während wir aus dem Tod Leben gewinnen«, sagte Roland. Dann sah er mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hinüber und fragte wortlos, ob sie noch etwas hinzufügen wolle.
Susannah merkte, wie ihr die Worte von selbst kamen. »Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen; denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.«
»Das ist ein schönes Gebet«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Ich hab’s vielleicht nicht ganz richtig gesagt – das letzte Mal liegt schon lange zurück –, aber es bleibt das beste Gebet. Aber jetzt sollten wir lieber weiterarbeiten, solange ich meine Hände noch spüren kann.«
Roland sagte amen.
6
Roland ergriff den abgetrennten Kopf des einjährigen Hirschs (an den Geweihansätzen ließ er sich gut anfassen), stellte ihn vor sich hin und schlug dann mit dem faustgroßen Felsbrocken auf den Schädel. Dabei war ein gedämpftes Knacken zu hören, bei dem sich Susannah der Magen verkrampfte. Roland packte die Geweihstangen und ruckte an ihnen, erst nach links, dann nach rechts. Als Susannah sah, wie das gespaltene Schädeldach sich unter dem Fell bewegte, verkrampfte sich ihr Magen nicht nur; er
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