Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Räume zu erforschen.
5
Auf dem dritten Treppenabsatz blickte er durch die Tür und sah einen Cordsamtanzug, den zweifellos er getragen hatte, als er erst ein Jahr alt gewesen war. Unter den Gesichtern an der Wand sah er das seines Vaters, aber als viel jüngerer Mann. Später war dieses Gesicht grausam geworden – Ereignisse und Verpflichtungen hatten es so verändert. Aber hier war das noch nicht der Fall. Hier waren Steven Deschains Augen die eines Mannes, der etwas betrachtete, was ihn mehr erfreute, als irgendetwas das jemals getan hat – oder jemals tun könnte. Hier roch Roland für einen Augenblick einen süßlichen, schweren Duft, den er als die Rasierseife seines Vaters erkannte. Zugleich flüsterte eine Phantomstimme: Sieh nur, Gabby, sieh doch! Er lächelt! Lächelt mich an! Und er hat einen neuen Zahn!
Auf dem Fußboden des vierten Raums lag das Halsband seines ersten Hundes Ring-A-Levio, kurz Ringo geheißen. Er war eingegangen, als Roland drei war, was in gewisser Beziehung ein Geschenk des Himmels gewesen war. Ein Junge von drei Jahren durfte noch um ein Schoßtier weinen – sogar ein Junge, in dessen Adern das Blut des Eld floss. Hier nahm der Revolvermann einen Duft wahr, der wundervoll, aber namenlos war, und erkannte ihn als den Geruch von Ringos Fell im warmen Schein der Volle-Erde-Sonne.
Ungefähr zwei Dutzend Stockwerke über Ringos Raum lagen auf dem Fußboden Brotkrumen und ein schlaffes Bündel Federn verstreut, die einst ein Falke namens David gewesen waren – ganz bestimmt kein Schoßtier, aber doch ein Freund. Das erste von Rolands vielen Opfern auf der Suche nach dem Dunklen Turm. Auf einem Wandabschnitt sah Roland ihn im Flug dargestellt, wie er mit ausgebreiteten Stummelflügeln über dem versammelten Hof von Gilead (Marten der Zauberer an prominenter Stelle unter den Höflingen) dahinsegelte. Und links neben der auf den Balkon hinausführenden Tür war David nochmals eingemeißelt. Hier waren seine Schwingen angelegt, während er sich wie eine Kugel blindlings auf Cort stürzte, ohne auf dessen erhobenen Stock zu achten.
Alte Zeiten.
Alte Zeiten und alte Untaten.
Nicht weit von Cort entfernt war das lachende Gesicht der Hure zu sehen, mit der der Junge sich an jenem Abend vergnügt hatte. Der Geruch in Davids Raum war ihr Parfüm: billig und süßlich. Als der Revolvermann ihn einatmete, erinnerte er sich daran, wie er das Schamhaar der Hure berührt hatte, und war schockiert, sich jetzt wieder daran zu erinnern, woran er damals gedacht hatte, während seine Finger zu ihrer glitschig-süßen Spalte hinunterglitten: Wie es gewesen war, frisch aus dem Babybad zu kommen und die Hände seiner Mutter auf sich zu spüren.
Er begann steif zu werden, und Roland flüchtete angstvoll aus diesem Raum.
6
Nun gab es kein rötliches Licht mehr, das seinen Weg erhellte, nur noch das unheimliche blaue Leuchten der Fenster – Glasaugen, die lebten, Glasaugen, die den unbewaffneten Eindringling beobachteten. Außerhalb des Dunklen Turms hatten die Rosen auf dem Can’-Ka No Rey sich für eine weitere Nacht geschlossen. Ein Teil seines Ichs staunte darüber, dass er überhaupt hier war; dass er sämtliche Hindernisse, die sich vor ihm aufgetürmt hatten, nacheinander überwunden hatte – so erschreckend zielstrebig wie eh und je. Ich bin wie einer dieser Roboter des Alten Volkes, dachte er. Einer, der den Auftrag, für den er bestimmt ist, ausführt oder sich bei dem Versuch, es zu tun, aufreibt.
Ein anderer Teil seines Ichs war jedoch keineswegs überrascht. Dies war der Teil, der träumte, wie es auch die Balken tun mussten, und dieses dunklere Ich bestand darauf, er sei schon einmal hier gewesen, er sehe diese Räume nicht zum ersten Mal. Er dachte wieder an das Horn, das Cuthbert aus den Fingern geglitten war – Cuthbert, der lachend in den Tod gegangen war. An das Horn, das vielleicht bis zum heutigen Tage dort lag, wo es am Jericho Hill auf den felsigen Boden gefallen war.
Natürlich habe ich diese Räume schon einmal gesehen! Sie erzählen schließlich mein Leben.
Und wie sie das taten. Stockwerk für Stockwerk, Abenteuer für Abenteuer (von Tod für Tod ganz zu schweigen) erzählten die aufsteigenden Räume des Dunklen Turms Roland Deschains Leben und Suche. Jeder enthielt sein Mahnzeichen; jeder einen charakteristischen Duft. Oftmals war einem einzigen Jahr mehr als nur ein Stockwerk gewidmet, aber mindestens eines war es in jedem Fall. Und nach dem
Weitere Kostenlose Bücher