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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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plötzlich kaum noch Luft, und seine Stimme war nur ein Flüstern.
    Der heiße Stokes legte die rechte Faust an die Stirn und verbeugte sich leicht. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Tim als Mann gegrüßt wurde. »Heil, Tim, Sohn von Jack. Sein Ka ist auf die Lichtung gegangen, aber seine sterblichen Überreste liegen hier. Willst du eintreten und sie sehen?«
    »Ja, bitte.«
    Der verquere Peter blieb zurück, und nun war es Stokes, der Tim eine Hand unter den Arm legte. Stokes, der nicht wie gewöhnlich Lederzeug trug und fluchend den Blasebalg seiner Esse trat, sondern in zeremonielles Weiß gekleidet war; Stokes, der ihn in den kleinen Raum führte, dessen Wände mit Bäumen bemalt waren; Stokes, der ihn zu der in der Mitte stehenden Bahre aus Eisenholz führte – zum Mittelpunkt dieses Raums, der die Lichtung am Ende des Pfades symbolisierte.
    Auch Big Jack Ross trug Weiß, allerdings ein Leichentuch aus feinem Leinen. Seine lidlosen Augen blickten starr zur Decke auf. An einer der bemalten Wände lehnte sein Sarg, der den kleinen Raum mit seinem sauren und trotzdem irgendwie angenehmen Duft erfüllte, denn auch der Sarg bestand aus Eisenholz und würde diese kümmerlichen Überreste für tausend Jahre oder noch länger sehr gut bewahren.
    Stokes ließ seinen Arm los, und Tim ging allein weiter. Er kniete nieder. Er schob eine Hand unter das Leichentuch und fand die Hand seines Da’s. Sie war kalt, aber Tim zögerte nicht, seine warmen, lebendigen Finger mit den toten zu verschränken. So hatten die beiden sich an den Händen gehalten, als Tim noch klein gewesen war und eben erst laufen gelernt hatte. Damals war der Mann, der neben ihm herging, ihm wie ein Riese und unsterblich erschienen.
    Tim kniete an der Bahre und betrachtete das Gesicht seines Vaters.

Als Tim wieder ins Freie trat,  
    verwunderte ihn der Sonnenstand, der ihm sagte, dass über eine Stunde vergangen war. Cosington und Stokes standen bei dem mannshohen Schlackehaufen hinter der Schmiede und rauchten Selbstgedrehte. Von Big Kells gab es keine Neuigkeiten.
    »Vielleicht ist er in den Fluss gesprungen und ertrunken«, spekulierte Stokes.
    »Komm, steig auf, Sohn«, sagte Cosington. »Ich bring dich zu deiner Ma zurück.«
    Tim schüttelte jedoch den Kopf. »Sage Euch meinen Dank, aber wenn’s recht ist, gehe ich zu Fuß.«
    »Brauchst Zeit zum Nachdenken, was? Na, das ist in Ordnung. Ich fahr zu mir heim. Heute gibt’s nur kalte Küche, aber mit der bin ich zufrieden. Niemand missgönnt deiner Ma unter solchen Umständen etwas. Nie im Leben.«
    Tim lächelte schwach.
    Cosington stellte die Füße aufs Spritzbrett seines Wagens und ergriff die Leinen, beugte sich dann aber noch einmal zu Tim hinunter, weil ihm offenbar etwas eingefallen war. »Halt unterwegs Ausschau nach Kells, das ist alles. Nicht dass ich glaube, dass du ihn sehen wirst, nicht bei Tageslicht. Und heute Nacht bewachen zwei oder drei kräftige Burschen euer Haus.«
    »Danke-sai.«
    »Nar, nichts davon. Nenn mich Peter, mein Junge. Du bist alt genug, und ich will’s so haben.« Er beugte sich hinunter und drückte Tim kurz die Hand. »Das mit deinem Vater tut mir leid. Schrecklich leid.«

Tim hatte die rot untergehende Sonne  
    zu seiner Rechten, als er jetzt der Landstraße folgte. Er fühlte sich hohl, ausgebrannt, und vielleicht war das auch besser so, zumindest fürs Erste. Welche Zukunft gab es für sie, wenn seine Mutter blind blieb und kein Mann im Haus war, der ihren Lebensunterhalt verdienen konnte? Big Ross’ Holzfällerkollegen würden helfen, so viel und so lange sie konnten, aber sie hatten ihre eigenen Verpflichtungen. Sein Da’ hatte ihre Heimstatt stets als freien Grundbesitz bezeichnet, aber Tim sah jetzt, dass kein Haus, keine Farm und kein Stück Land in Tree wirklich frei war. Nicht wenn der Zöllner nächstes Jahr und in allen folgenden Jahren mit seiner Namensliste wiederkommen würde. Plötzlich hasste Tim das ferne Gilead, das ihm stets (wenn er überhaupt daran gedacht hatte, was selten vorgekommen war) als ein Ort voller Träume und Wunder erschienen war. Gäbe es kein Gilead, gäbe es auch keine Steuern. Dann wären sie wahrhaft frei.
    Im Süden sah er eine Staubwolke aufsteigen. Die untergehende Sonne verwandelte sie in blutroten Nebel. Er wusste, dass es die Frauen waren, die Nell versorgt hatten. Jetzt waren sie mit ihren Buckas und Ponywagen zu dem Bestattungssalon unterwegs, aus dem Tim gerade kam. Dort würden sie den Leichnam

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