Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sie nicht… aber sie war am anderen Morgen immer noch da.
17
An diesem Tag schafften sie nur zwei Meilen, wenngleich Detta keinen Versuch unternahm, den Stuhl umzukippen; Eddie dachte, daß sie vielleicht zu schwach wurde, um Sabotageakte auszuführen. Vielleicht hatte sie auch eingesehen, daß sie gar nicht nötig waren. Drei fatale Faktoren wirkten hervorragend zusammen: Eddies Erschöpfung, das Gelände, das sich nach tagelanger Einförmigkeit endlich zu verändern anfing, und Rolands Zustand, der sich zunehmend verschlechterte.
Es kamen keine Sandfallen mehr, aber das war ein schwacher Trost. Der Boden wurde körniger und mehr und mehr wie billige, wertlose Krume, weniger und weniger Sand (an manchen Stellen wuchsen Unkräuter, die fast aussahen, als schämten sie sich, das zu sein), und jetzt ragten so viele Steine aus dieser seltsamen Mischung von Sand und Geröll heraus, daß Eddie um sie herummanövrieren mußte, wie er den Rollstuhl der Herrin bisher um die Sandfallen herumgesteuert hatte. Er sah, daß bald kein Strand mehr übrigbleiben würde. Die Hügel, braune, freudlose Erhebungen, kamen unablässig näher. Eddie konnte die Klüfte zwischen ihnen sehen, so daß sie aussahen wie Klötze, die ein ungeschickter Riese mit einem stumpfen Beil gehauen hatte. In dieser Nacht hörte er kurz vor dem Einschlafen etwas, das sich wie eine riesige fauchende Katze anhörte.
Der Strand hatte endlos gewirkt, aber jetzt wurde ihm klar, daß er doch ein Ende hatte. Die verwitterten Berge würden bis zum Wasser herunterkommen und dann hinein, wo sie zuerst zu einem Kap oder einer Halbinsel und später zu einem Archipel werden mochten.
Das beunruhigte ihn, aber Rolands Zustand beunruhigte ihn noch mehr.
Diesmal schien der Revolvermann weniger zu verbrennen als vielmehr dahinzusiechen, er verlor Substanz und wurde durchsichtig.
Die roten Linien waren wieder aufgetaucht und marschierten unaufhaltsam seinen rechten Arm in Richtung Ellbogen hinauf.
Eddie hatte die beiden vergangenen Tage starr geradeaus gesehen, in die Ferne geblinzelt und gehofft, die Tür zu sehen, die Tür, die magische Tür. Er hatte die vergangenen zwei Tage darauf gewartet, daß Odetta wieder auftauchen würde.
Nichts von beidem war geschehen.
Bevor er an diesem Abend einschlief, kamen ihm zwei schreckliche Gedanken, wie ein Witz mit doppelter Pointe:
Was war, wenn keine Tür mehr kam?
Was war, wenn Odetta Holmes tot war?
18
»Aufstehn und los, Wichsah!« kreischte Detta ihn aus der Bewußtlosigkeit. »Ich glaub, jetz sin’d nur noch wir zwei, Süßah. Ich glaub, dein Freund hat ennlich’n Abgang gemacht. Ich glaub, dein Freund is’ unnen inner Hölle den Teufel am Pimpern.«
Eddie betrachtete die eingemummte, zusammengerollte Gestalt von Roland und dachte einen entsetzlichen Augenblick, das Miststück hätte recht gehabt. Dann regte sich der Revolvermann, stöhnte heiser und hangelte sich in eine sitzende Haltung.
»Nu schauma sich dassan!« Detta hatte so sehr geschrien, daß ihre Stimme jetzt manchmal vollkommen aussetzte und zu einem unheimlichen Flüstern wurde, wie Winterwind unter einer Tür. »Ich dachte, du bist tot, Mister Man!«
Roland stand langsam auf. Für Eddie sah es immer noch aus, als würde er sich an den Sprossen einer unsichtbaren Leiter hochziehen. Eddie verspürte eine wütende Art Mitleid, und das war ein vertrautes, seltsam nostalgisches Gefühl. Nach einem Augenblick verstand er. Es war wie damals, wenn er und Henry sich Kämpfe im Fernsehen angesehen hatten und einer den anderen verletzte, schlimm verletzte, immer und immer wieder, und die Menge schrie nach Blut, und dann schrie Henry nach Blut, aber Eddie saß nur da und verspürte dieses wütende Mitleid, diesen dummen Ekel; er saß da und schickte Gedankenwellen zu dem Gemetzel: Hör auf Mann, verdammt, bist du blind? Der stirbt doch! STIRBT! Hör mit dem verdammten Kampf auf!
Es gab keine Möglichkeit, diesen zu beenden.
Roland sah mit seinen gequälten fiebrigen Augen zu ihr. »Das haben schon viele geglaubt, Detta.« Er sah zu Eddie. »Bist du bereit?«
»Ja, schätze schon. Du auch?«
»Ja.«
»Kannst du?«
»Ja.« Sie gingen weiter.
Gegen zehn Uhr fing Detta an, sich die Schläfen mit den Fingern zu reiben.
»Halt«, sagte sie. »Mir ist schlecht. Ich glaube, ich muß kotzen.«
»Wahrscheinlich das viele Essen von gestern abend«, sagte Eddie und schob weiter. »Du hättest auf den Nachtisch verzichten sollen. Ich
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