Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Charlies Abstellplatz. Und was für eine Diesellokomotive das war! 5000 Pferdestärken! Edelstahlkoppler! Zugmaschinen vom Maschinenwerk in Utica, New York! Und oben, direkt hinter dem Generator, befanden sich drei große Kühlventilatoren. »Was ist das?« fragte Lokführer Bob mit besorgter Stimme, aber Charlie sang nur mit seiner leisesten, brummigsten Stimme sein Lied:
Laß mich in Ruh, ich hab genug
Von deinen dummen Fragen,
Ich bin nur ein einfacher Tschuff-tschuff-Zug,
Mehr kann ich dir nicht sagen.
Ich möchte einfach nur sausen,
Das ist mir ein Hochgenuß,
Und als glücklicher Tschuff-tschuff-Zug brausen,
Bis ich einst sterben muß.
Mr. Briggs, der Depotverwalter, kam herüber. »Das ist eine wunderschöne Diesellokomotive«, sagte Lokführer Bob, »aber Sie müssen Sie von Charlies Stellplatz entfernen, Mr. Briggs. Charlie muß noch heute nachmittag abgeschmiert werden.«
»Charlie muß überhaupt nie mehr abgeschmiert werden, Lokführer Bob«, sagte Mr. Briggs traurig. »Das ist sein Nachfolger – eine brandneue Burlington-Zephyr-Diesellok. Früher war Charlie einmal die beste Lokomotive auf der ganzen Welt, aber jetzt ist er alt, und sein Boiler hat ein Leck. Ich fürchte, die Zeit ist gekommen, daß Charlie in den Ruhestand geht.«
»Unsinn!« Lokführer Bob war wütend! »Charlie ist immer noch voll Zack und Heißassa. Ich werde dem Vorstand der Eisenbahngesellschaft von Mittwelt telegrafieren, Mr. Raymond Martin höchstpersönlich! Ich kenne ihn, weil er mir einmal einen Orden für hervorragende Dienste verliehen hat, und hinterher sind Charlie und ich mit seiner kleinen Tochter spazierengefahren. Ich habe sie an der Zugschnur ziehen lassen, und Charlie hat, so laut er konnte, für sie gepfiffen!«
»Tut mir leid, Bob«, sagte Mr. Briggs, »aber es war Mr. Martin persönlich, der die neue Diesellok bestellt hat.«
Das stimmte. Und so wurde Charlie Tschuff-Tschuff auf ein Abstellgleis im hintersten Winkel des Rangierbahnhofs der Eisenbahngesellschaft von Mittwelt in St. Louis bugsiert, wo er zwischen Unkraut vor sich hinrostete. Jetzt konnte man das TUUUUT! TUUUUT! der Burlington Zephyr auf der Strecke von St. Louis nach Topeka hören, und Charlies Pfeife pfiff nicht mehr. Eine Mäusefamilie nistete auf dem Sitz, wo Lokführer Bob einst so stolz gesessen und gesehen hatte, wie die Landschaft vorbeirauschte; eine Schwalbenfamilie nistete im Schornstein. Charlie war einsam und sehr traurig. Er vermißte die Stahlschienen und den blauen Himmel und das offene Land. Manchmal mußte er spät nachts an das alles denken und weinte dunkle, ölige Tränen. Dieses machten seine wunderschönen Stratham-Scheinwerfer rostig, aber das war Charlie einerlei, weil der Stratham-Scheinwerfer jetzt alt und immer dunkel war.
Mr. Martin, der Vorstand der Eisenbahngesellschaft von Mittwelt, schrieb Lokführer Bob einen Brief und bot ihm an, er dürfe in der Kabine der neuen Burlington Zephyr fahren. »Es ist eine prima Lokomotive, Lokführer Bob, randvoll mit Zack und Heißassa, und du müßtest der Lokführer sein! Du bist der beste von allen Lokführern, die für Mittwelt arbeiten. Und meine Tochter Susannah hat nie vergessen, daß du sie einmal die Pfeife hast ziehen lassen.« Aber Lokführer Bob sagte, wenn er Charlie nicht fahren könne, dann wären seine Tage als Zugfahrer gezählt. »So eine prima neue Diesellok würde ich gar nicht verstehen«, sagte Lokführer Bob, »und sie würde mich nicht verstehen.«
Er bekam eine neue Aufgabe – er mußte die Lokomotiven im Depot von St. Louis saubermachen, und so wurde aus dem Lokführer Bob der Putzer Bob. Manchmal lachten ihn die anderen Lokführer aus, die die schönen neuen Dieselloks fuhren. »Seht euch den alten Narren an!« sagten sie. »Er kann nicht verstehen, daß sich die Welt weitergedreht hat!«
Manchmal ging Lokführer Bob spät nachts zur anderen Seite des Rangierbahnhofs, wo Charlie Tschuff-Tschuff auf den rostigen Schienen des Abstellgleises stand, das sein Zuhause geworden war. Unkraut rankte sich an seinen Rädern hoch; der Scheinwerfer war rostig und dunkel. Lokführer Bob redete immer mit Charlie, aber Charlie antwortete immer seltener. In manchen Nächten sagte er gar nichts. Eines Nachts ging Lokführer Bob ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. »Charlie, stirbst du?« fragte er, und Charlie antwortete mit seiner leisesten, brummigsten Stimme:
Laß mich in Ruh, ich hab genug
Von deinen dummen Fragen,
Ich bin nur
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