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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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leeren Patronenhülse in seinem Gurt. Er fing an, einen langen Einriß in einem Hemdsärmel zuzunähen. Als er fertig war und das Hemd zurückgab, konnte er spüren, wie das Meskalin zu wirken anfing – sein Magen zog sich zusammen, und er hatte den Eindruck, als würden sämtliche Muskeln seines Körpers eine Skaleneinheit angezogen werden.
    »Ich muß gehen«, sagte er und stand auf.
    Der Junge erhob sich halb, sein Gesicht war ein Schatten der Sorge, doch dann ließ er sich wieder nieder. »Sei vorsichtig«, sagte er. »Bitte.«
    »Vergiß den Kieferknochen nicht«, sagte der Revolvermann. Er legte Jake im Vorübergehen die Hand auf den Kopf und zerzauste das sandfarbene Haar. Die Geste entlockte ihm ein kurzes Lachen.
    Jake sah ihm mit besorgtem Lächeln nach, bis er im Weidendschungel verschwunden war.
    Der Revolvermann schritt entschlossen auf den Ring aus Steinen zu und hielt nur einmal inne, um Wasser aus der Quelle zu trinken. Er konnte sein Spiegelbild in dem kleinen, von Moos und Wasserlilien eingesäumten Teich sehen und betrachtete sich einen Augenblick so fasziniert wie Narziß. Die verstandesmäßige Reaktion setzte ein, sie verlangsamte den Lauf seiner Gedanken, indem sie die Bedeutung eines jeden Einfalls und einer jeden Sinneswahrnehmung verstärkte. Alles nahm ein Gewicht und einen Umfang an, der bislang nicht zu erkennen gewesen war. Er hielt inne, stand wieder auf und sah durch das verfilzte Geflecht der Weiden. Ein goldener, staubiger Strahl Sonnenlicht fiel schräg herab, und er beobachtete einen Moment das Spiel der winzigen Splitter und Staubkörnchen, bevor er weiterging.
    Die Droge hatte ihn häufig verstört: Sein Ich war zu stark (oder vielleicht zu schlicht), Freude daran zu empfinden, wenn es überschattet und zurückgeschält und zur Zielscheibe einfühlsamerer Emotionen gemacht wurde – die ihn kitzelten wie die Schnurrhaare einer Katze. Aber diesesmal fühlte er eine große Ruhe. Das war gut.
    Er betrat die Lichtung und schritt, ohne zu zögern, in den Kreis. Dort blieb er stehen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ja, es kam jetzt schneller, fester. Das Gras schrie ihm grün entgegen; er hatte den Eindruck, er würde überall an Fingern und Handflächen grüne Farbe haben, wenn er sich bückte und mit den Händen hindurchstrich.
    Er widerstand einem schalkhaften Drang, das Experiment auszuprobieren.
    Aber er hörte keine Stimme des Orakels. Keine sexuelle Erregung.
    Er trat vor den Altar und stand einen Augenblick davor. Es war ihm fast unmöglich, zusammenhängend zu denken. Seine Zähne fühlten sich seltsam im Kopf an. Die Welt enthielt zuviel Licht. Er kletterte auf den Altar und legte sich zurück. Sein Verstand wurde zu einem Dschungel voll seltsamer Gedankenpflanzen, die er vorher niemals gesehen oder auch nur vermutet hatte, einem Weidendschungel, der um eine Meskalinquelle herum gewachsen war. Der Himmel war Wasser und er hing freischwebend darüber. Der Gedanke versetzte ihm ein Schwindelgefühl, das fern und unwichtig schien.
    Verse eines alten Gedichts fielen ihm ein, aber kein Kinderlied, nein; seine Mutter hatte Drogen und ihre Notwendigkeit gefürchtet (wie sie Cort und die Notwendigkeit gefürchtet hatte, daß er die Jungen schlug); dieser Vers stammte aus einer der Ansiedlungen im Norden, wo immer noch Menschen inmitten von Maschinen lebten, die für gewöhnlich nicht funktionierten… und die ab und zu Menschen verschlangen, wenn sie doch funktionierten. Der Vers wurde immer wieder heruntergeleiert und erinnerte ihn (auf eine zusammenhanglose Weise, die typisch für die Wirkung des Meskalin war) an den Schnee, der in einer Glaskugel gefallen war, die er als Kind gehabt hatte, geheimnisvoll und halb fantastisch:
     
    Fern von der Menschen Zugriff ruht
    Das Seltsame, die Höllenglut…
     
    In den Bäumen, die über die Lichtung hingen, waren Gesichter. Er betrachtete sie voll abstrakter Faszination: Dort war ein grüner, sich windender Drache. Dort eine Waldnymphe mit lockenden Zweigenarmen. Dort ein lebender, von Schleim überwucherter Totenschädel. Gesichter. Gesichter.
    Plötzlich bog sich das Gras auf der Lichtung und wogte.
    Ich komme.
    Ich komme.
    Ein vages Regen seines Fleisches. Wie tief bin ich gesunken, dachte er. Einst liebkoste ich Susan im süßen Heu, und jetzt dies hier.
    Sie preßte sich auf ihn, ein Leib aus Wind, eine Brust aus plötzlich wohlriechendem Jasmin, Rosen und Geißblatt.
    »Sprich deine Prophezeiung«, sagte er. Sein Mund fühlte

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