Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
an.
»Nein«, sagte Jake nach einem Augenblick. »Das wirst du wohl nicht tun.«
»Ich möchte, daß du dich nicht vom Fleck rührst, während ich weg bin. Und wenn du dich komisch fühlst – in irgendeiner Weise seltsam –, dann nimmst du diesen Knochen und hältst ihn in den Händen.«
Haß und Ekel huschten über Jakes Gesicht, verbunden mit Bestürzung. »Das kann ich nicht. Das… kann ich einfach nicht.«
»Du kannst. Es könnte sein, daß du es mußt. Besonders am Nachmittag. Es ist wichtig. Kapiert?«
»Warum mußt du weggehen?« platzte Jake heraus.
»Ich muß eben.«
Der Revolvermann bekam einen erneuten faszinierenden Eindruck von dem Stahl, der unter der Oberfläche des Jungen lag und der so rätselhaft war wie seine Geschichte, er würde aus einer Stadt kommen, wo die Häuser so hoch waren, daß sie tatsächlich an den Wolken kratzten.
»Na gut«, sagte Jake.
Der Revolvermann legte den Kieferknochen behutsam neben die Überreste des Feuers, wo er wie ein verwittertes Fossil, welches nach einer Nacht von fünftausend Jahren wieder das Tageslicht erblickt, aus dem Gras emporgrinste. Jake weigerte sich, ihn anzusehen. Sein Gesicht war blaß und kläglich. Der Revolvermann überlegte, ob es sich für sie auszahlen würde, wenn er den Jungen hypnotisierte und befragte, aber er kam zu dem Ergebnis, daß es wenig bringen würde. Er wußte ziemlich genau, daß der Geist des Steinringes ein Dämon war, und wahrscheinlich auch ein Orakel. Ein Dämon ohne Gestalt, lediglich eine Art gestaltlose sexuelle Energie mit einem prophetischen Auge. Er fragte sich sardonisch, ob es sich nicht um die Seele von Sylvia Pittston handeln könnte, der riesenhaften Frau, deren religiöser Eifer zur letzten Schießerei in Tull geführt hatte… aber er wußte, daß es nicht so war. Die Steine des Rings waren uralt, das Reich dieses speziellen Dämons war schon lange vor dem frühesten Schatten der Vorzeit abgesteckt worden. Aber der Revolvermann beherrschte die Formen des Sprechens recht gut und glaubte nicht, daß der Junge den Zauber des Kieferknochens würde anwenden müssen. Stimme und Verstand des Orakels würden mit ihm mehr als beschäftigt sein. Und der Revolvermann mußte ungeachtet des Risikos bestimmte Dinge wissen… und das Risiko war hoch. Doch für sich selbst und für Jake mußte er gewisse Dinge mit aller Macht erfahren.
Der Revolvermann machte den Tabaksbeutel auf, kramte darin, schob die getrockneten Blatthäcksel beiseite und fand schließlich ein winziges, in ein Stück weißes Papier eingewickeltes Objekt. Er wog es in der Hand und sah geistesabwesend zum Himmel hinauf. Dann packte er es aus und hielt den Inhalt eine winzige weiße Tablette mit Kanten, die vom Reisen schon arg abgescheuert waren – in der Hand.
Jake sah ihn neugierig an. »Was ist das?«
Der Revolvermann stieß ein kurzes Lachen aus. »Der Stein der Weisen«, sagte er. »Cort hat uns immer die Geschichte erzählt, daß die Alten Götter in die Wüste gepißt und so das Meskalin erschaffen haben.«
Jake sah nur verwirrt drein.
»Eine Droge«, sagte der Revolvermann. »Aber keine, die einen in Schlaf versetzt. Eine, die einen kurze Zeit ganz aufweckt.«
»Wie LSD«, stimmte der Junge eilfertig zu und sah dann noch verwirrter drein.
»Was ist das?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jake. »Ist mir gerade eingefallen. Ich glaube, es stammt von… du weißt schon, vorher.«
Der Revolvermann nickte, aber er hatte seine Zweifel. Er hatte noch nie gehört, daß Meskalin als LSD bezeichnet wurde, nicht einmal in Martens ältesten Büchern.
»Wird es dir schaden?«
»Bisher hat es noch nie geschadet«, sagte der Revolvermann, der sich der Ausflucht bewußt war.
»Gefällt mir nicht.«
»Vergiß es.«
Der Revolvermann kauerte sich vor dem Wasserschlauch nieder, trank einen Mundvoll und schluckte die Pille. Er spürte wie immer sofort eine Reaktion im Mund; er schien vom Speichel überzufließen. Er nahm vor dem erloschenen Feuer Platz.
»Wann geschieht etwas mit dir?« fragte Jake.
»Noch eine ganze Weile nicht. Sei still.«
Also war Jake still und verfolgte mit unverhohlenem Argwohn, wie der Revolvermann sich an das Ritual machte, seine Pistolen zu reinigen.
Er steckte sie wieder in die Halfter und sagte: »Dein Hemd, Jake. Zieh es aus und gib es mir.«
Jake zog das Hemd widerstrebend über den Kopf und gab es dem Revolvermann.
Der Revolvermann holte eine Nadel hervor, die im Saum seiner Jeans steckte, und einen Faden aus einer
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