Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
daß ich verrückt sein muß.
»Das ist eine Sicherungsanlage«, sagte er. Dann zwang er sich, obwohl seine Nerven und Instinkte aufschrien und sich dagegen aussprachen, auf den SPRECHEN/HÖREN-Knopf zu drücken.
Kein Knistern von Elektrizität wurde laut; kein tödliches blaues Feuer raste an seinem Arm hinauf. Keine Spur, daß das Ding überhaupt noch angeschlossen war.
Vielleicht ist Blaine tot. Vielleicht ist er doch tot.
Aber das glaubte er eigentlich nicht.
»Hallo?« sagte er und sah vor seinem geistigen Auge den unglücklichen Ardis, der schrie, während er von blauem Feuer wie in der Mikrowelle gegrillt wurde, das über sein Gesicht und den Körper wanderte, die Augäpfel schmolz und sein Haar in Brand steckte. »Hallo… Blaine? Ist da jemand?«
Er ließ den Knopf los und wartete nervös. Susannah legte ihre Hand in seine – kalt und winzig. Immer noch keine Antwort, daher drückte Eddie widerwilliger denn je den Knopf erneut.
»Blaine?«
Er ließ den Knopf los. Wartete. Und als er immer noch keine Antwort erhielt, kam ein seltsames Kribbeln über ihn, wie häufig in Augenblicken der Belastung und Angst. Wenn dieses Kribbeln über ihn kam, schien es nicht mehr wichtig zu sein, die Risiken abzuwägen. Nichts schien mehr wichtig zu sein. So war es gewesen, als er Balazars Kontaktmann mit dem teigigen Gesicht in Nassau die Stirn geboten hatte, und so war es jetzt. Und wenn Roland ihn in dem Moment gesehen hätte, als seine irre Ungeduld über ihn kam, hätte er mehr als nur eine Ähnlichkeit zwischen Eddie und Cuthbert gesehen; er hätte geschworen, daß Eddie Cuthbert war.
Er drückte den Knopf mit dem Daumen und bellte mit einem gestelzten (und vollkommen übertriebenen) britischen Akzent. »Hello, Blaine! Cheerio, alter Freund! Hier spricht Robin Leach in der Sendung Das Leben der Reichen und Hirnlosen, und ich bin gekommen, dir zu sagen, daß du sechs Milliarden Dollar und einen neuen Ford Escort in der Lotterie der Verlagshäuser gewonnen hast!«
Tauben flatterten oben in einer leisen, verblüfften Explosion von Schwingen davon. Susannah stöhnte. Ihr Gesichtsausdruck entsprach dem einer strenggläubigen Frau, die gerade mit anhören mußte, wie ihr Mann in der Kathedrale Gotteslästerungen ausgestoßen hat. »Eddie, hör auf! Hör auf!«
Eddie konnte nicht aufhören. Sein Mund lächelte, aber in seinen Augen stand eine Mischung aus Angst, Hysterie und hilfloser Wut. »Du und deine Einschienenfreundin Patricia werdet einen lux-huuuriösen Monat im malerischen Jimtown verbringen, wo ihr nur die erlesensten Weine trinken und die hübschesten Jungfrauen essen werdet! Ihr…«
»… sssss… «
Eddie verstummte und betrachtete Susannah. Er war sicher, daß sie ihn zum Schweigen ermahnt hatte – nicht nur, weil sie es schon einmal versucht hatte, sondern weil sie die einzige sonst anwesende Person war –, und doch wußte er gleichzeitig, daß sie es nicht gewesen war. Es war eine andere Stimme gewesen; die Stimme eines sehr kleinen und sehr ängstlichen Kindes.
»Suze? Hast du…«
Susannah schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die Hand. Sie deutete auf das Kästchen der Sprechanlage, und Eddie sah, daß der Knopf mit der Aufschrift BEFEHL schwach rosa leuchtete. Dieselbe Farbe wie der Mono, der auf der anderen Seite der Absperrung auf seinem Bahnsteig schlief.
»Ssss… weckt ihn nicht auf«, klagte die Kinderstimme. Sie drang so sanft wie ein Abendwind aus dem Lautsprecher.
»Was…«, begann Eddie. Dann schüttelte er den Kopf, streckte die Hand nach dem SPRECHEN/HÖREN-Knopf aus und drückte ihn behutsam. Als er wieder sprach, tat er es nicht im plärrenden Robin-Leach-Bellen, sondern mit einem fast verschwörerischen Flüstern. »Was bist du? Wer bist du?«
Er ließ den Knopf los. Er und Susannah sahen einander mit großen Augen an wie Kinder, die wissen, sie befinden sich mit einem gefährlichen – möglicherweise psychopathischen – Erwachsenen im gleichen Haus. Wie sie das erfahren haben? Nun, ein anderes Kind hat es ihnen erzählt, ein Kind, das schon lange mit dem psychopathischen Erwachsenen lebt, sich in Ecken versteckt und sich nur herauswagt, wenn es weiß, daß der Erwachsene schläft; ein ängstliches Kind, das eben zufällig unsichtbar ist.
Es erfolgte keine Antwort. Eddie ließ die Sekunden verstreichen. Jede schien so lang zu sein, daß man einen Roman lesen konnte. Er streckte wieder die Hand nach dem Knopf aus, als das rosa Leuchten erneut strahlte.
»Ich bin
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