Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
der kleine Blaine«, flüsterte die Stimme des Kindes. »Derjenige, den er nicht sieht. Den er vergessen hat. Den er verlassen in den Sälen des Verfalls und den Hallen der Toten wähnt.«
Eddie drückte den Knopf mit einer Hand, die unkontrolliert zu zittern angefangen hatte. Dieses Zittern konnte er auch in seiner Stimme hören. »Wer? Wer ist derjenige, den er nicht sieht? Ist es der Bär?«
Nein – nicht der Bär; der nicht. Shardik lag tot im Wald, viele Meilen hinter ihnen; die Welt hatte sich seither weitergedreht. Eddie mußte plötzlich zurückdenken, wie es gewesen war, den Kopf an die seltsame Tür auf der Lichtung zu halten, wo der Bär sein brutales Halbleben geführt hatte, die Tür mit den irgendwie gräßlichen schwarzen und gelben Streifen darauf. Alles gehörte zu einem Stück, wurde ihm plötzlich klar; alles war Teil eines schrecklichen, verfallenden Ganzen, eines zerrissenen Netzes, in dessen Mitte der Dunkle Turm stand wie eine unverständliche steinerne Spinne. Ganz Mittwelt war in diesen Endzeitaugen zu einem einzigen riesigen Spukhaus geworden; ganz Mittwelt war zu den Drawers geworden; ganz Mittwelt war zu einem wüsten Land geworden, voll Spuk und Heimsuchung.
»Der große Blaine«, flüsterte die unsichtbare Stimme. »Der große Blaine ist der Geist in der Maschine – der Geist in allen Maschinen.«
Susannah hatte eine Hand an den Hals gelegt und drückte, als wollte sie sich selbst erwürgen. Ihre Augen waren groß und entsetzt, aber nicht glasig, nicht fassungslos; Begreifen leuchtete in ihnen. Vielleicht kannte sie so eine Stimme aus ihrer Zeit – der Zeit, da das integrierte Ganze Susannah von den kriegführenden Persönlichkeiten Detta und Odetta vertrieben worden war. Die kindliche Stimme hatte sie so überrascht wie ihn, aber ihre gequälten Augen verrieten, daß ihr das angedeutete Konzept nicht fremd war.
Susannah wußte alles über den Wahnsinn der gespaltenen Persönlichkeit.
»Eddie, wir müssen gehen«, sagte sie. Ihr Entsetzen machte ein unbetontes Nuscheln aus den Worten. Er konnte Atem in ihrer Luftröhre pfeifen hören wie Wind um einen Schornstein. »Eddie wir müssen weg Eddie wir müssen weg Eddie wir müssen weg…«
»Zu spät«, sagte die leise, traurige Stimme. »Er ist wach. Der große Blaine ist wach. Er weiß, daß ihr hier seid. Und er kommt.«
Plötzlich flackerten Lichter – grelle orangefarbene Natriumdampflampen – paarweise über ihnen auf und hüllten die säulenbegrenzte Weite der Krippe in harsches Licht, das alle Schatten vertrieb. Hunderte Tauben schwirrten in ziellosem, ängstlichem Flug umher, weil sie aus ihrem Komplex ineinander verflochtener Nester oben aufgeschreckt worden waren.
»Warte!« rief Eddie. »Warte, bitte!«
In seiner Aufregung vergaß er, den Knopf zu drücken, aber das war einerlei; der kleine Blaine antwortete auch so. »Nein! Ich kann nicht zulassen, daß er mich fängt! Ich kann nicht zulassen, daß er mich auch tötet!«
Das Licht der Sprechanlage wurde wieder dunkel, aber nur einen Augenblick. Diesmal leuchteten BEFEHL und EINTRITT gleichzeitig auf, und sie waren nicht mehr rosa gefärbt, sondern so dunkelrot wie das Feuer eines Schmiedes.
»WER SEID IHR?« brüllte eine Stimme, die nicht nur aus dem Kästchen drang, sondern aus jedem Lautsprecher in der Stadt, der noch funktionierte. Die verwesenden Leichen, die an den Pfosten hingen, erbebten unter der Wucht dieser mächtigen Stimme; es schien, als würden selbst die Toten vor Blaine fliehen, wenn sie könnten.
Susannah drückte sich in den Rollstuhl und preßte die Hände auf die Ohren; ihr Gesicht war mißfällig in die Länge gezogen, der Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Eddie spürte, wie das fantastische, halluzinatorische Grauen eines Elfjährigen über ihn kam. Hatte er diese Stimme gefürchtet, als er und Henry in der Villa gestanden waren? Hatte er sie möglicherweise gar vorhergesehen? Er wußte es nicht… er wußte nur, wie Jack in dem alten Märchen zumute gewesen sein mußte, als er feststellte, er war einmal zu oft an der Bohnenranke hinaufgeklettert und hatte den Riesen geweckt.»WIE KÖNNT IHR ES WAGEN, MEINEN SCHLAF ZU STÖREN? SAGT ES MIR AUF DER STELLE ODER STERBT, WO IHR STEHT.«
Er wäre vielleicht auf der Stelle erstarrt und hätte Blaine – den großen Blaine – mit ihnen anstellen lassen, was er mit Ardis getan hatte (oder etwas Schlimmeres); vielleicht hätte er im Griff dieses Entsetzens wie im Märchen, im
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