Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
zutiefst ängstigte. Das Mädchen hielt diese Miene fraglos für gequält und verzweifelt; für Cordelia sah sie nur kindisch eigensinnig aus.
»Nun gut, Susan«, sagte sie mit einer ruhigen, gedämpften Stimme. Das Mädchen würde nie erfahren, wie viel Anstrengung es kostete, diesen Ton zu erreichen, geschweige denn zu halten. Es sei denn, sie würde es eines Tages auch einmal mit einem eigensinnigen Teenager zu tun bekommen. »Was hat Sie so aus der Fassung gebracht?«
Susan drehte sich zu ihr um – Cordelia Delgado, die einfach nur seelenruhig in ihrem Schaukelstuhl saß. In diesem Augenblick glaubte Susan, sie könnte sich auf ihre Tante stürzen, ihr das schmale, selbstgefällige Gesicht zerkratzen und schreien: Das ist alles deine Schuld! Deine! Ganz allein deine! Sie fühlte sich besudelt; nein, das war nicht stark genug, sie fühlte sich beschmutzt, und dabei war eigentlich gar nichts passiert. Das war das Schreckliche daran. Noch war eigentlich gar nichts passiert.
»Sieht man es mir an?«, sagte sie nur.
»Natürlich sieht man es Ihr an«, antwortete Cordelia. »Nun sag mir, Mädchen, hat er Sie bedrängt?«
»Ja… nein… nein.«
Tante Cord saß im Schaukelstuhl, hatte das Strickzeug im Schoß, die Brauen hochgezogen, und wartete auf mehr.
Schließlich erzählte ihr Susan, was geschehen war – mit einer Stimme, die größtenteils tonlos klang, gegen Ende ein wenig bebend, aber das war auch alles. Tante Cord verspürte eine irgendwie zurückhaltende Erleichterung. Vielleicht waren es doch wieder nur die Nerven, die mit einem dummen Mädchen durchgegangen waren!
Das Ersatzkleid war, wie alle anderen Ersatzkleider, noch nicht fertig; es gab zu viel anderes zu tun. Aus diesem Grund hatte Maria, die Zofe, Susan an Conchetta Morgenstern, die oberste Schneiderin, verwiesen, die Susan ohne ein Wort ins Nähzimmer im Erdgeschoss führte – wenn Schweigen Gold war, hatte Susan sich schon häufig überlegt, dann müsste Conchetta so reich sein, wie es die Schwester des Bürgermeisters angeblich war.
Das »Blaue Kleid mit Perlen« war über eine kopflose Schneiderpuppe drapiert worden, die unter einem niedrigen Vorsprung stand, und obschon Susan zerfetzte Stellen am Saum und ein kleines Loch auf der Rückseite sehen konnte, war es keineswegs das zerfetzte Ding, das sie erwartet hatte.
»Kann man es nicht retten?«, fragte sie ziemlich schüchtern.
»Nein«, sagte Conchetta brüsk. »Zieh die Hosen aus, Mädchen. Hemd auch.«
Susan gehorchte, stand barfuß in dem kühlen, kleinen Raum und verschränkte die Arme vor der Brust… nicht, dass Conchetta je auch nur das geringste Interesse an dem gezeigt hätte, was Susan vorzugsweise hatte, weder vorn noch hinten, weder oben noch unten.
Es schien, als sollte das »Blaue Kleid mit Perlen« durch das »Rosa Kleid mit Applikationsstickerei« ersetzt werden. Susan stieg hinein, zog die Träger hoch und blieb geduldig stehen, während Conchetta sich bückte, Maß nahm und vor sich hin murmelte, derweil sie manchmal mit einem Stück Kreide Zahlen auf einen der Steine an der Wand schrieb und manchmal ein Stück Stoff nahm und fester an Susans Taille oder Becken zog und im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand überprüfte, wie es aussah. Wie immer bei dieser Prozedur schweiften Susans Gedanken ab, und sie ließ ihnen freien Lauf. In letzter Zeit gab sie sich gern Tagträumen hin, wie sie Seite an Seite mit Roland die Schräge entlangritt, bis sie schließlich zu einem Weidenwäldchen über dem Hambry Creek gelangten.
»Bleib so reglos stehen, wie du kannst«, sagte Conchetta kurz angebunden. »Bin gleich wieder da.«
Susan merkte kaum, dass die Frau fort war; merkte kaum, dass sie sich im Haus des Bürgermeisters befand. Der Teil von ihr, auf den es wirklich ankam, war nicht da. Dieser Teil war bei Roland in dem Weidenwäldchen. Sie konnte den schwachen, halb lieblichen, halb stechenden Duft der Bäume riechen und das leise Murmeln des Bachs hören, als sie sich Stirn an Stirn niederlegten. Er strich ihr mit der Handfläche über das Gesicht, bevor er sie in die Arme nahm…
Dieser Tagtraum war so realistisch, dass Susan zunächst hingebungsvoll auf die Arme reagierte, die von hinten um ihre Taille gelegt wurden, und den Rücken krümmte, als ihr die Hände über den Bauch strichen und sich dann zu den Brüsten hocharbeiteten. Auf einmal hörte sie eine Art pflügenden, schnaubenden Atem im Ohr, roch Tabak und begriff, was da wirklich geschah. Nicht Roland
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