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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Angesicht erinnert, dann muss Sie es tun.«
    Susan sah sie an, zog den Mund zu einem bebenden Bogen hinab, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. Ich habe jemanden kennen gelernt, den ich liebe! Das hätte sie ihr gesagt, wenn sie gekonnt hätte. Begreifst du nicht, wie das alles verändert? Ich habe jemanden kennen gelernt, den ich liebe! Aber wenn Tante Cord jemand gewesen wäre, zu dem sie das hätte sagen können, hätte sich Susan wahrscheinlich niemals auf diesem Pflock aufgespießt. Daher drehte sie sich um und lief ohne ein weiteres Wort aus dem Haus; ihre Sicht verschwamm vor ihren tränenden Augen und malte die Spätsommerwelt in trostlosen Farben.
     
     

6
     
    Sie ritt ohne eine bewusste Vorstellung davon los, wohin sie wollte, und doch musste ein Teil von ihr ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen gehabt haben, weil sie sich vierzig Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatte, genau dem Weidenwäldchen näherte, von dem sie geträumt hatte, als Thorin sich wie ein böser Troll aus einem Ammenmärchen an sie herangeschlichen hatte.
    Unter den Weiden war es herrlich kühl. Susan band Felicia (auf der sie ohne Sattel geritten war) an einem Ast fest und ging langsam über die kleine Lichtung inmitten des Wäldchens. Hier floss auch der Bach entlang, und hier setzte sie sich auf das federnde Moos, das auf der Lichtung wuchs. Natürlich war sie hierher gekommen; hierher hatte sie jeden heimlichen Kummer und jede heimliche Freude gebracht, seit sie die Lichtung im Alter von acht oder neun Jahren entdeckt hatte. Hierher war sie immer wieder gekommen in den nahezu endlosen Tagen nach dem Tod ihres Vaters, als es ihr so vorkam, als wäre die ganze Welt – zumindest ihre Version davon – mit Pat Delgado zu Ende gegangen. Nur diese Lichtung kannte das ganze schmerzliche Ausmaß ihres Kummers; dem Bach hatte sie davon erzählt, und der Bach hatte ihn fortgespült.
    Nun wurde sie von einem neuerlichen Weinkrampf geschüttelt. Sie stützte den Kopf auf die Knie und schluchzte – laute, undamenhafte Töne, gleich dem Kreischen streitender Krähen. In diesem Augenblick dachte sie, dass sie alles – rein alles – gegeben hätte, um ihren Vater noch einmal eine Minute bei sich zu haben, damit sie ihn fragen konnte, ob sie wirklich zu ihrem Wort stehen musste.
    Sie weinte über dem Bach, und als sie das Geräusch eines brechenden Zweiges hörte, erschrak sie und sah voller Angst und Ärger über die Schulter. Der Ort hier war ihre geheime Zuflucht, und hier wollte sie nicht gefunden werden, schon gar nicht, wenn sie wie eine Göre plärrte, die hingefallen war und sich den Kopf gestoßen hatte. Noch ein Zweig brach. Es war tatsächlich jemand hier, der zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt in ihr geheimes Versteck eindrang.
    »Geh weg!«, schrie sie mit einer tränenerstickten Stimme, die sie selbst kaum erkannte. »Geh weg, wer immer du bist, sei anständig und lass mich allein!«
    Aber die Gestalt – inzwischen konnte sie sie sehen – kam näher. Als sie sah, um wen es sich handelte, hielt sie Will Dearborn (Roland, dachte sie, sein richtiger Name ist Roland) zuerst für eine Ausgeburt ihrer überanstrengten Phantasie. Sie war sich erst sicher, dass er wirklich da war, als er sich niederkniete und die Arme um sie legte. Da aber drückte sie ihn voller Panik fest an sich. »Woher hast du gewusst, dass ich hier…«
    »Ich habe dich auf der Schräge reiten sehen. Von einer Stelle aus, wo ich manchmal zum Nachdenken hingehe, und da habe ich dich gesehen. Ich wäre dir nicht gefolgt, aber mir ist aufgefallen, dass du ohne Sattel reitest, und da dachte ich mir, dass vielleicht etwas nicht in Ordnung mit dir ist.«
    »Nichts ist in Ordnung.«
    Er küsste ihre Wangen mit Bedacht, voller Ernst und mit offenen Augen. Er hatte es auf beiden Seiten ihres Gesichts mehrmals gemacht, bis ihr klar wurde, dass er ihr die Tränen fortküsste. Dann hielt er sie an den Schultern von sich weg, damit er ihr in die Augen sehen konnte.
    »Sag es noch einmal, Susan, und ich werde es tun. Ich weiß nicht, ob das ein Versprechen ist oder eine Warnung oder beides zugleich, aber… sag es noch einmal, und ich werde es tun.«
    Es war nicht nötig, ihn zu fragen, was er damit meinte. Sie schien zu spüren, wie sich der Boden unter ihren Füßen bewegte, und später sollte sie denken, dass sie zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben das Ka wirklich gespürt hatte, einen Wind, der nicht vom Himmel kam, sondern aus der Erde. Nun ist es doch

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