Der Eden Effekt
verraten?«
»Nein.« Mark schaute auf die kleinen Ventilatoren im Tunnel, die sich drehten, als der Zug an ihnen vorbeiraste. »Meine Aufgabe ist es, den Mitarbeitern spezielle Projekte zu geben, an denen sie arbeiten und die sie testen.« Er zeigte auf seinen Kopf. »Der Gesamtzusammenhang bleibt hier drin.«
»Gut. Die Sache erfordert aber viel Fingerspitzengefühl.«
»Sicher.« Mark schwenkte eine Hand durch die Luft. »Ich schicke ihnen einen Zeh, einen Finger, vielleicht ein Knie. Wie das alles in den Körper passt, das ist meine Sache.«
Gunter nickte mit starrem Blick. »Und wo, glauben Sie, liegt Ihre Verantwortung, Dr. Schott?«
Mark zuckte mit den Schultern. »Für große Investmentunternehmen wie ECSITE? Ich nehme an, ich benutze das Modell, um vorherzusagen, in welchen Ländern man am besten nicht investieren sollte. Warum sollten Sie Milliarden in eine Wirtschaft investieren, die bald zusammenbrechen wird? Richtig?«
Gunter lächelte grimmig.
»Sehen wir den Tatsachen ins Auge«, fuhr Mark fort. »Auf der Erde leben rund sieben Milliarden Menschen. Wir haben es mit immer knapper werdenden Ressourcen zu tun. Das wird sich in Entbehrung, Korruption auf politischer Ebene, Klimawandel, abnehmenden Nahrungsmittelressourcen und gelegentlichen Epidemien niederschlagen. Tja, damit werden internationale Investitionen ein gefährliches Spiel. Je besser ECSITE die Anfangsbedingungen kennt, desto größer ist die Chance, dass Ihr Unternehmen noch steht, wenn die Musik verstummt.«
»Musik? Ich verstehe nicht.«
»Haben Sie als Kind nie die Reise nach Jerusalem gespielt? Dieses Spiel, bei dem sich immer, wenn die Musik aussetzt, alle Kinder schnell auf einen Stuhl setzen müssen, aber in jeder Runde ein Kind stehen bleibt, weil ein Platz fehlt? Ihr Unternehmen möchte das einzige sein, das einen Stuhl ergattert, wenn die Musik für immer verstummt.«
»Das haben Sie richtig erkannt, Dr. Schott.«
Anika French stellte schnell fest, dass es zwar schön war, als Dozentin zu arbeiten, dass es aber auch eine ganz neue Herausforderung war, Seminare zu geben. Mit einem dicken Stapel Seminararbeiten unter dem Arm stieg sie die Treppe vom Seminarraum zu ihrem Büro hinauf. Dreißig Studenten hatten ihre Seminararbeiten abgegeben, und jede von ihnen umfasste zwanzig Seiten. Das bedeutete, dass sie am Wochenende sechshundert Seiten lesen musste.
Für die Universität war es eine clevere Entscheidung gewesen, sie einzustellen. Bis zu den Semesterferien im Herbst gehörte sie nicht offiziell zum Lehrkörper der Universität. Bis dahin fiel sie in eine Grauzone der Lehrbeauftragten, die schlechter bezahlt wurden. Sie hatte auch keinerlei Vergünstigungen außer denen, die sie im Augenblick noch durch ihren Studentenstatus genoss.
Anika erfuhr nach und nach, welche Aufgaben sie übernehmen musste. Es war beängstigend, aber der Gedanke, dass es andere vor ihr auch geschafft hatten, tröstete sie. Vor der
Fachbereichskonferenz am nächsten Montag fürchtete sie sich jedoch. Von einem Augenblick zum anderen gehörte sie dazu. Die Professoren bombardierten sie bereits mit Fragen, die sie kaum beantworten konnte. Alte Freunde waren plötzlich zurückhaltend, und überall auf den Korridoren fragten die Menschen sich hinter vorgehaltener Hand, warum Mark Schott die Universität verlassen und die Verwaltung beschlossen hatte, ausgerechnet Anika French die Vertretung seiner Seminare zu übertragen.
Ich schaffe das schon , sagte sie sich. Ich mache meine Arbeit, zeige, was ich kann, und halte mich aus allem raus.
Als Anika in den Gang einbog, in dem ihr Büro lag, und die brünette Frau vor ihrem Büro stehen sah, wäre sie beinahe wie angewurzelt stehen geblieben.
Okay. Jetzt nur die Ruhe bewahren und sachlich bleiben !
Anika ging schnellen Schrittes weiter und lächelte. »Hallo, Denise! Ich dachte, Sie sind in München.«
Denise Schott war eine attraktive Frau mit feinen Gesichtszügen und großen braunen Augen. Sie kleidete sich so, dass ihr Busen und ihre langen Beine gut zur Geltung kamen. Heute trug sie eine enge Bluse, eine braune Baumwollhose mit einem Gürtel, der ihre schlanke Taille betonte, und braune Slipper. Ihr schulterlanges Haar war gelockt, als käme sie soeben vom Friseur.
Denise lächelte verhalten, doch ihre Augen funkelten feindselig. »Er hat Sie also auch verlassen?«
»Wie bitte?«
Denise wies mit dem Kopf auf Anikas Büro, um anzudeuten, dass sie das Gespräch gerne drinnen fortsetzen
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