Der Effekt - Roman
Meer in Südkalifornien verbracht. Ihr Vater war frisch pensioniert gewesen. Ihr älterer Bruder Dom war im Begriff, von zu Hause auszuziehen, um ein Basketball-Stipendium in Vermont anzutreten. Ihre Mutter war zu dieser Zeit noch gesund gewesen.
Zitternd lag sie auf dem Sofa im Dunkeln in der kleinen, ungeheizten Wohnung in einer Stadt, die langsam zerfiel, und erinnerte sich an die vielen endlosen Tage, die
sie mit Surfen, Schwimmen und Wandern verbracht hatte. Sie musste sogar lächeln, als sie daran dachte, wie sie versucht hatte, ihren Eltern das Surfen beizubringen. Ihre Mutter hatte schon nach zehn Minuten aufgegeben, aber ihr Vater war wild entschlossen gewesen, den Rest seines Lebens als Wellenreiter zu verbringen. Jedenfalls hatte er das behauptet. Wahrscheinlich sollte es nur ein Scherz sein. Er hatte ja bereits einen Job bei einer Frachtfluggesellschaft angenommen, die von ehemaligen Kameraden geführt wurde. Aber es war schön zu wissen, dass ihr Vater von nun an nicht mehr in ein Land der Dritten Welt geschickt werden konnte, wo er Gefahr lief, von irgendwelchen Verrückten umgebracht zu werden. Sich auszumalen, wie er ein lässiges Leben am Strand führte, war wirklich nett gewesen. Und ihr größter Triumph war, ihn endlich so weit zu kriegen, dass er aufrecht auf dem Brett stand und auf einer kleinen Welle ein paar Meter weit ritt, bevor er kopfüber ins Wasser fiel. Mit diesem Bild vor Augen schlief sie endlich ein.
Aber es hielt nicht lange vor. Sie wurde von Alpträumen geplagt, an manche erinnerte sie sich später, an andere nicht. Ihre Familie war verschwunden, und sie musste sich in einer Welt ohne Liebe und Zuneigung zurechtfinden. Sie träumte davon, durch eine unbekannte Stadt zu gehen, wo verfaulende Leichen an verrotteten Stricken unter Laternen hingen, vom Wind hin und her bewegt, und sich als Mitglieder ihrer Familie entpuppten. Auch Wales sah sie dort hängen und sogar Monique. Von Panik erfüllt rannte sie los, immer tiefer in die Stadt hinein, in der Kinder mit der Peitsche zur Sklavenarbeit gezwungen wurden und eine Pyramide aus abgeschlagenen Köpfen bauen mussten. Monster und Dämonen beherrschten die Menschheit, und alle Auswüchse der Barbarei und des Abartigen wucherten um sie herum. Wie ein Schatten durchquerte sie diese grausige Welt, unfähig, etwas zu
tun, unsichtbar für die Sklaven und ihre Schinder. Ab und zu wachte sie mit klopfendem Herzen und ausgetrocknetem Mund auf und versuchte verzweifelt, sich wieder in jene glückliche Welt zurückzuträumen, in der sie mit ihrem Vater am Strand war. Aber sobald sie die Augen schloss, versank sie wieder in diesem Alptraum, in dem die Welt ein einziges Leichenhaus geworden war.
In den frühen Morgenstunden, kurz bevor das Dunkel der Nacht dem schäbigen Grau des Tages weichen sollte, träumte sie davon, in einer Zelle in der Festung Noisy-le-Sec gefangen zu sein. Ihre Bewacher hatten sie geschlagen und ihr erklärt, dass sie als verdeckte Agentin schon so gut wie tot sei, da niemand nach ihr suchen würde. Sie lag auf dem gekachelten Fußboden in einer Pfütze aus Erbrochenem und Blut, und ihre Augenlider waren so geschwollen, dass sie fast nichts mehr sehen konnte. Ihre Zähne waren locker von den Schlägen, die sie abbekommen hatte, und die Schmerzen im Kiefer waren unerträglich. Sie hörte, wie über sie gesprochen wurde, auf Französisch, auf Deutsch und auch auf Arabisch.
»Sie ist doch sowieso erledigt, machen wir sie endgültig fertig.«
»Aber die Amerikaner wissen …«
»Die können überhaupt nichts tun. Sie gehört zu Echelon. Damit existiert sie praktisch überhaupt nicht.«
»Die haben gewagt, sie auf uns zu hetzen. Jetzt sollen sie sehen, dass so eine Frechheit bestraft wird.«
»Es wird Vergeltungsmaßnahmen geben.«
»Aber natürlich!«
»Oh, für dich geht das wohl in Ordnung, Al-Banna, du bist ja nicht …«
Sie versuchte, sich von diesem Alpdruck zu befreien.
Al-Banna. Ihre Zielperson. Moniques »Freund«.
»Das geht schon in Ordnung. Ihr seid sicher.«
»Niemand ist sicher.«
»Sie ist nicht nur eine Spionin. Sie ist eine Auftragskillerin der schlimmsten Sorte.«
»Dann sollten wir sichergehen, dass sie kein Unheil mehr anrichten kann.«
»Bilal, es geht nicht so einfach …«
Caitlins Kopf fühlte sich an, als wäre er in dicke Tücher gehüllt. Erschöpfung und Übelkeit lasteten auf ihr und ließen sie immer wieder in den Schlaf zurückfallen. Ein kleiner Teil von ihr, ein Nachhall ihres
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