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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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seinem BlackBerry zuwandte. Ohne erkennbares Resultat tippte er auf die Tastatur ein. »Heute Morgen ging das Ding doch noch«, murmelte er vor sich hin. Melton ignorierte ihn einfach. Eine Stewardess bemerkte, dass er verletzt war, und bot ihm ein Kissen und eine Decke an. Vor langer, langer Zeit einmal hätte er ein solches Angebot als Zumutung empfunden. Er hatte ziemlich lange gebraucht, um seine rüden Anwandlungen, die er sich beim Militär angewöhnt hatte, abzulegen. Aber jetzt nahm er Kissen und Decke an und dankte der Stewardess für ihre Aufmerksamkeit. Dann schluckte er ein paar Schmerztabletten und spülte sie mit dem Rest des Orangensafts herunter. Die Triebwerke wurden lauter, der Kapitän meldete sich und teilte mit, dass sie einen weiten Bogen fliegen würden, um die Gefahrenzonen im Norden zu umgehen. Melton hörte kaum hin. Es war ihm egal, wie er aus diesem Schlamassel herauskam, Hauptsache, er kam raus.
    Tatsächlich vermisste er seinen Freund Sayad. Ihm wurde klar, dass er sich mal wieder von den Ereignissen treiben ließ und schon wieder einen Freund hinter sich gelassen hatte, dessen Zukunft ungewiss war. In diesem Teil der Welt würde in der nächsten Zeit nicht viel Gutes passieren. Die US-Truppen würden im Nahen Osten nicht bleiben können, aber die Region würde von vitalem Interesse für die übrig gebliebenen Großmächte bleiben. Wie lange würde es dauern, bis die amerikanischen Kriegsschiffe durch solche aus China, Indien und Russland ersetzt wurden? Als seine Augenlider sich senkten und er versuchte, sein Schnarchen zu unterdrücken, das seine Mitreisenden
nerven würde, machte er sich daran, die strategischen und ökonomischen Konsequenzen des israelischen Atomschlags zu analysieren. Er war aber viel zu müde und sein Sitz viel zu bequem, um darüber nachzudenken. Stattdessen schlief er ein.
    Einige Tausend Kilometer später wachte er über Gibraltar wieder auf, schluckte erneut einige Pillen, trank etwas Wasser und schlief weiter. Er erwachte, als das Flugzeug sich im Sinkflug befand. Die Stewardess schüttelte ihn sanft am Ellbogen, um ihn und seinen Nachbarn mit dem BlackBerry zu wecken, damit sie ihre Sitze in aufrechte Position bringen konnten.
    »Sind wir schon in London?«, krächzte er.
    Die Stewardess, eine karibische Schönheit, schien aufgeregt und ängstlich zu sein.
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir machen einen Zwischenstopp in Paris. Das … war nicht geplant … ist aber kein Grund zur Beunruhigung. Wir tanken auf und fliegen weiter.«
    Jetzt war er hellwach.
    »Wir fliegen nicht nach London«, sagte sein Nachbar, mit dem er bisher kaum ein Wort gesprochen hatte.
    »Ich war völlig weg. Tut mir leid, falls ich geschnarcht habe«, sagte Melton. »Ist irgendwas passiert?«
    Der junge Mann, der einen altmodischen Vollbart trug und damit wie ein Angehöriger der Amish People aussah, zuckte mit den Schultern und hielt ein Paar Kopfhörer hoch.
    »Sennheiser, mit eingebauter Geräusch-Ausblendung«, sagte er. »Man hört weder Maschinengeräusche noch das Schnarchen des Nachbarn. Kein Problem.«
    Also gehörte er nicht zu den Amish People.
    »Die Briten haben ihre Grenzen dicht gemacht«, erklärte er. »Das hat die Crew uns noch nicht mitgeteilt.« Er deutete nach vorn zum Cockpit. »Aber ich hab die Nachrichten
auf meinem Handy gelesen, als ich zur Toilette ging. Alles geschlossen, Flug- und Seehäfen, der Kanaltunnel, alles.«
    Melton wurde erst langsam wieder klar im Kopf. Die Schmerztabletten wirkten noch immer.
    »Warum denn?«, fragte er.
    Sein Nachbar verschränkte die Arme vor der Brust und blickte empört drein.
    »Blair hat irgendwas von Unruhen gesagt, die rüberschwappen. So ein Blödsinn. Ich muss nach Hause. Sitzt hier vielleicht ein moslemischer Terrorist in der Maschine? Das sind doch alles Geschäftsleute. So ein Blödsinn.«
    »Was für Unruhen?«, fragte Melton. »Ich dachte, die Aufstände in Paris sind nicht so schlimm.«
    Der Mann schaute ihn an, als würde er mit einem geistig Zurückgebliebenen reden. »Soll das ein Witz sein? Paris brennt! Ganz Frankreich brennt. Da herrscht Bürgerkrieg. Und jetzt schicken sie uns da mitten rein.«

EIN MONAT
    14. April 2003

35

Noisy-le-Sec, Paris
    »Er fehlt euch wohl, der gute alte Onkel Sam? Sehnt euch zurück nach eurem Sugardaddy, hm?«
    Caitlins Stimme versagte. Sie grinste, obwohl ihre Lippen angeschwollen waren und ihre Zähne rot vom eigenen Blut.
    Reynards Gesichtsausdruck war es wert.

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