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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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hatte seit dem ersten Verhör. Zu Anfang war er immer glattrasiert erschienen, seine Anzüge waren frisch gereinigt und gebügelt gewesen. Inzwischen war er bereits zweimal unrasiert aufgetaucht, und sie hatte bemerkt, dass sein Kragen und seine Manschetten schmutzig waren. Nicht nur ihr, auch ihm ging es
schlecht. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und hatte die Haut um seinen linken Daumennagel abgenagt.
    Sie hatte keine Ahnung, was außerhalb der Festung in der Stadt vor sich ging, sie wusste noch nicht einmal, was in den Nachbarzellen los war, aber sie vermutete, dass draußen so langsam alles zusammenbrach. Deshalb stichelte sie ihn, wo sie nur konnte, und erzielte damit manchmal eine Reaktion wie eben. Nun wartete sie auf ihre Bestrafung. Sie bemühte sich, ruhig zu werden, was ihr heute leichter fiel, denn sie durfte auf ihrer Pritsche liegen. Sie war nackt, aber daran hatte sie sich längst gewöhnt. Glücklicherweise hatten sie sie diesmal nicht zu einer anstrengenden Körperhaltung gezwungen, zum Beispiel mit zusammengebundenen Knien aufrecht zu sitzen oder mit auf den Rücken gebundenen Händen. Auf Dauer war so etwas sehr schmerzhaft. Damit sie ihre Stellung nicht änderte, hatten sie einmal extra zwei Männer mit Gummischläuchen neben sie gestellt, die sie schlagen mussten, wenn sie sich bewegte.
    Nach einigen Tagen hatte sie Druckwunden am Hintern, die sich entzündeten. Nun musste sie von einem Arzt behandelt werden, was ihr einige Tage Erleichterung verschaffte. Danach machten sie weiter mit einer Mischung aus Stresspositionen, Waterboarding und Reizüberflutung, die sich so abwechselten, dass sie nie völlig erledigt war und man die Behandlung beenden musste. Sie hatten sie beinahe schon gebrochen, dann aber aufgehört, nachdem sie einen Mann, der ihr eine Kapuze über den Kopf ziehen wollte, in die Hand gebissen hatte. Sie hatte so fest wie nur möglich zugebissen und gespürt, wie die Haut nachgab und das heiße Blut hervorströmte. Dann waren ihre Zähne auf den blanken Knochen gestoßen.
    Der Dreckskerl hatte lauter geschrien als sie jemals zuvor, was sie Reynard genüsslich mitgeteilt hatte. Nach dem Vorfall hatten sie sich wieder aufs Schlagen verlegt.

    Mit Schlägen konnte sie umgehen. Sie hatte sogar begonnen, ihre Peiniger anzutreiben in der Hoffnung, sie würde sie dann endlich totschlagen.
    In einer Hinsicht hatte Reynard tatsächlich Recht: Sie war verloren. Ihre Mission war beendet, und sie würde nie mehr befreit werden.
    Trotzdem wollte sie unbedingt widerstehen, denn dieser Widerstand war das Einzige, was sie noch hatte. Das Einzige, was ihr noch blieb, war, den eigenen Tod mitzubestimmen.
    Sie atmete tief ein, auch wenn die Luft um sie herum schal schmeckte und sie den Hustenreiz niederkämpfen musste. Ganz langsam atmete sie ein und hielt dabei die Augen geschlossen. Sie versuchte sich vorzustellen, das grelle Licht der Lampe, die von der Decke hing, sei die Sonne. Die zahllosen Schmerzen, die sie empfand, so malte sie sich aus, stammten von einem anstrengenden Tag auf dem Surfboard in der Nähe des Riffs von Mentawais. Dort war sie vor zwölf Monaten das letzte Mal gewesen und hatte zwei Wochen lang mit ihrem Bruder und einigen seiner Freunde Urlaub gemacht.
    (Die waren jetzt alle weg.)
    Sie hatten jeden Tag acht Stunden lang gesurft. Es war unglaublich anstrengend gewesen. Sie wollte sich nicht die ganze Zeit in Erinnerung rufen, nur diesen einen Moment, als sie die perfekte Welle entdeckt hatte und ihr entgegengepaddelt war. Sie versuchte zu spüren, wie das warme tropische Wasser über ihre Zehen floss, wie die Sonne auf ihren Rücken gebrannt hatte, das Salzwasser auf den Lippen, als sie durch eine gebrochene Welle getaucht war, das sanfte Prickeln der Luftblasen an ihrer Nase und …
    »Na, träumst du vom Apfelkuchen deiner Oma, Caitlin?« Sie war viel zu erschöpft, um zusammenzuschrecken. Aber innerlich spürte sie, wie etwas in ihr zerbrach und
ein Abgrund sich auftat. Sie wusste, wer gekommen war, noch bevor sie die Augen geöffnet hatte. Ihr Ziel.
    Bilal Baumer.
    Al-Banna.
     
    »Bist du ein Mörder, Willard?«
    »Was soll das denn?«
    »Ich habe nur Marlon Brando in der Rolle des Colonel Kurtz nachgemacht«, sagte Baumer mit einem lauten Lachen, das von den kahlen Wänden widerhallte. Er wiederholte das Zitat und bemühte sich, Brandos nasale Aussprache möglichst genau zu imitieren.
    »Bist du eine Mörderin, Caitlin?«
    (Okay, dann mache ich halt mal mit.)
    »Ich

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