Der Effekt - Roman
Die Versammlung löste sich nie auf, sondern fand vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche statt, weshalb er sich gezwungen sah, einen weiteren, privaten Raum in einem anderen Stockwerk zu benutzen. Das Wetter war wirklich scheußlich. Er zog sich den Hut tief ins Gesicht und fühlte sich wie eine Figur in einem Film noir. Die Temperatur war deutlich gefallen, und der Frühling hatte sich schlagartig in einen trüben Herbst verwandelt. Nur ein breitkrempiger Hut konnte verhindern, dass der ätzende Regen einem ins Gesicht spritzte. Trotzdem spannte er zusätzlich einen schwarzen Schirm auf, als er auf die Straße trat. Er musste vier Blocks weit laufen, denn nur das Militär und die Rettungsdienste bekamen in Seattle noch Benzin zugeteilt, und niemand hielt Jed Culver für so wichtig, dass man ihm einen Wagen mit Chauffeur zur Verfügung stellte.
Er wäre gern wieder auf Hawaii gewesen.
Das Hotel Monaco war bis vor einem Monat noch eins der angesagtesten kleinen Hotels gewesen. Jetzt war es voll mit grobschlächtigen Versammlungsteilnehmern und Tabak kauenden Soldaten, die so viel Dreck hereinschleppten, dass das Management es aufgegeben hatte, für Sauberkeit zu sorgen. Stattdessen hatten sie überall Abdeckplanen
verlegt. Als Culver aus dem Hotel trat, bemerkte er eine Gruppe von vier Soldaten vor einer Teppichreinigungsmaschine. Offenbar versuchten sie herauszufinden, wie das Ding funktionierte. Er hörte, wie einer von ihnen, ein Sergeant, sagte, er wolle das Hotel gern in dem gleichen Zustand hinterlassen, in dem er es vorgefunden hatte.
Wenn sie doch nur verschwinden würden, dachte Culver und trat auf die Straße.
Er vergrub sich tief in seinem Mantel und eilte an einer verlassenen Baustelle vorbei, wo sich das ölige Wasser in großen Pfützen sammelte und von den Plastikplanen herabrann. Einige Einheimische hatten ihm erzählt, dass dies die neue Bibliothek werden sollte, aber niemand glaubte, dass das Gebäude je zu Ende gebaut würde. Er ging die Fourth Avenue hinunter, die eine Hand tief in der Manteltasche. In der anderen hielt er einen ledernen Dokumentenkoffer. Er trug Handschuhe, um seine Hände vor dem ätzenden Regen zu schützen, aber es war ihm lieber, wenn er sie außerdem in die Tasche stecken konnte. Auf den Straßen war es sehr ruhig, nur wenige Angestellte der Stadt mit leuchtend gelben Identifizierungsschildern und kleinere Gruppen von Soldaten standen hier und da an den Ecken herum. Manche hatten an einer Bushaltestelle Unterschlupf unter der Überdachung gefunden. Die im Regen sahen ziemlich unglücklich aus. Sein eigenes Leuchtschild, das ihm erlaubte, sich draußen zu bewegen, war in einem schauderhaft kitschigen Pink gehalten. Es wies ihn als offiziellen Mitarbeiter von Gouverneurin Lingle für die Zeit des Kongresses aus.
Eine Windbö peitschte durch die Straßenschluchten und spritzte ihm den Giftregen ins Gesicht. Culver musste stehen bleiben und sich das Wasser mit dem Taschentuch abwischen. Er hatte immer einige Taschentücher extra für diesen Zweck dabei. Vor »Simon’s Espresso Café« hielt er
an. Hier hatte er an seinem ersten Tag in der Stadt ein ausgezeichnetes Beef-Sandwich gegessen. Der mit Piercings übersäte Kellner hatte über die »Schweinefaschisten« lamentiert, die »die Stadt übernommen« hätten, und dunkle Andeutungen fallen lassen über angebliche geheime militärische Experimente, die den Effekt verursacht hatten. Dann forderte er ihn auf, sein Sandwich besonders bewusst zu genießen, weil es nämlich eins der letzten sei, die Simon’s servieren würde. Wenig später wurde das Café geschlossen. Nun blieb es auch hinter diesen Schaufenstern dunkel, wie in vielen anderen Läden der Stadt. Culver rieb sich die Regentropfen aus dem Gesicht und fragte sich, was aus dem Mann mit den zahllosen Piercings wohl geworden war.
Vielleicht hatte er sich ja der »Résistance« angeschlossen.
Culver musste lachen über diesen anmaßenden Namen dieser Verlierertruppe, die sich bei dem Mythos der französischen Widerstandsbewegung bedient hatte. Auch wenn die Dinge in Seattle nicht gerade zum Besten standen, war es nichts im Vergleich zum Paris während der Okkupation durch die Nazis. Genau genommen machten diese Widerstandskämpfer alles nur noch schlimmer. Jedes Mal, wenn sie einen Server in Fort Lewis knackten oder in ein Lebensmittellager einbrachen, um die Vorräte »zu befreien« und an die »einfachen Leute« zu verteilen, jedes Mal, wenn sie
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