Der Ego-Tunnel
Kein seriöser empirischer Forscher und kein Philosoph will »das Bewusstsein reduzieren«. Allenfalls lässt sich eine Theorie darüber, wie der Inhalt des Bewusstseins entstanden ist, auf eine andere Theorie reduzieren. Unsere Theorien über die Phänomene verändern sich, aber die Phänomene bleiben gleich. Ein schöner Regenbogen bleibt auch dann ein schöner Regenbogen, wenn er mit den Begriffen einer Theorie über elektromagnetische Strahlung erklärt worden ist. Sich eine primitive szientistische Ideologie zu eigen zu machen wäre genauso schlimm, wie sich dem antireduktionistischen Ressentiment, dem Irrationalismus und dem Obskurantismus zu unterwerfen. Darüber hinaus sind sich die meisten Beteiligten einig, dass die wissenschaftliche Methode nicht die einzige Form des Erkenntnisgewinns ist.
Aber das ist nicht alles, was zu diesem Thema gesagt werden muss. Ich denke, in Wahrheit könnte häufig tatsächlich eine tiefere, schwer zu artikulierende Einsicht hinter unserem Unbehagen gegenüber reduktiven Ansätzen bei der Erforschung des bewussten Geistes stehen. Wir wissen, dass unsere Überzeugungen über das Bewusstseinauf subtile Weise das verändern können, was wir wahrnehmen, indem sie den Inhalt und das funktionale Profil des subjektiven Erlebens selbst verändern – sie bilden nicht nur einen inneren Filter, sie bestimmen auch, welchen Situationen wir uns überhaupt aussetzen und wie wir miteinander umgehen. Manche von uns befürchten, eine materialistische »Entzauberung« als Folge von Fortschritten in den neuen Naturwissenschaften vom menschlichen Geist könnte unerwünschte soziale und kulturelle Konsequenzen mit sich bringen. Wie ich in den beiden abschließenden Kapiteln dieses Buches zeigen werde, haben auch diese Stimmen vollkommen recht: Auch dies ist ein wichtiger Aspekt der Entwicklung in den sogenannten Mind Sciences (die bald die Nachfolge der Life Sciences , der Lebenswissenschaften, antreten könnten). Wir haben auf vielen neuen Ebenen verstanden, dass Bewusstsein – wie auch die Wissenschaft selbst – ein kulturell eingebettetes Phänomen ist.
Eine andere Lektion, die wir gelernt haben, lautet, dass Bewusstsein kein »Alles-oder-Nichts«-Phänomen ist, nicht etwas, das entweder existiert oder nicht existiert. Es ist ein graduell auftretendes Phänomen, und es zeigt sich in vielen verschiedenen Schattierungen und Stärkegraden. Bewusstsein ist außerdem kein einheitliches Phänomen, sondern es besitzt eine Reihe voneinander unterscheidbarer Aspekte: Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Gefühle, die Wahrnehmung von Farbe oder Selbstbewusstsein und Gedanken höherer Ordnung. Gleichwohl scheint es so zu sein, dass sich die Essenz des Phänomens – das, was ich das Erscheinen einer Welt nenne – durchgängig erhält. Eines der wesentlichen Merkmale von Bewusstsein besteht nämlich darin, dass es uns auf eine ganz neue Weise in dieser Welt situiert. Wenn wir am Morgen aufwachen, dann erleben wir uns als zu einem bestimmten Zeitpunkt existierend, an einem bestimmten Ort und als eingebettet in eine Szene: eine spezifische, eindeutige und integrierte Situation entsteht. Dasselbe gilt für Träume oder Halluzinationen, in denen man nicht bloß sich selbst erlebt, sondern sich selbst im Kontext einer bestimmten Situation, als Teil einer Welt, die eben zum Vorschein gekommen ist und sich nun schrittweise weiter enthüllt. Wir haben auch gelernt, dass das Bewusstsein weitins Tierreich hinabreicht. 4 Wir haben viele neue Einsichten über psychiatrische Störungsbilder und Hirnverletzungen, über Koma und minimal bewusste Zustände, über Träume, luzide Träume und andere veränderte Bewusstseinszustände gewonnen. All das hat zu einem allgemeinen Bild geführt, dem Bild eines komplexen Phänomens, das in sehr verschiedenen Ausprägungsgraden und Erscheinungsformen auftritt. Es gibt keinen An-Aus-Schalter. Die Tatsache, dass Bewusstsein ein graduelles, in Stufen auftretendes Phänomen ist, verursacht manchmal begriffliche Probleme. Gleichzeitig finden wir jedoch bereits die ersten neuronalen Korrelate für spezifische Formen von Bewusstseinsinhalten. 5 Irgendwann wird es uns möglich sein, die minimale Menge von Eigenschaften zu bestimmen, die unsere Gehirne besitzen müssen, um spezifische Qualitäten des Erlebens zu aktivieren, wie etwa die rosa-aprikosenfarbene Tönung des Abendhimmels oder den Duft einer Mischung aus Ambra und Sandelholz.
Was wir jedoch nicht wissen, ist, wie weit uns die
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