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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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Möglichkeit, zu verstehen, warum wir alle als naive Realisten geboren wurden. Warum sind wir uns der tunnelartigen Natur des Bewusstseins nicht gewahr? Wie bereits festgestellt, hat die robuste Illusion, tatsächlich in direktem Kontakt zur Außenwelt zu stehen, etwas mit der Geschwindigkeit der neuronalen Informationsverarbeitung in unseren Gehirnen zu tun. Außerdem wird das subjektive Erleben nicht durch einen einzigen Vorgang allein erzeugt, sondern durch verschiedene, miteinander in Wechselwirkung stehende Funktionen: multisensorische Integration, Kurzzeitgedächtnis, Aufmerksamkeit und so weiter. Meine eigene Theorie sagt, dass die Essenz des Bewusstseins darin liegt, dass es den Raum attentionaler Agentivität öffnet: Bewusste Information ist genau die Teilmenge der gegenwärtig in unserem Gehirn aktiven Information, auf die wir willentlich unsere Aufmerksamkeit lenken können, und zwar die Aufmerksamkeit der höchsten Stufe. Niedrigstufige Aufmerksamkeit ist automatisch und kann durch vollständig unbewusste Ereignisse ausgelöst werden. Dass eine Wahrnehmung bewusst ist, bedeutet nicht, dass wir auch aktuell und willentlich mit Hilfe unserer Aufmerksamkeitsmechanismen auf sie zugreifen. Im Gegenteil: Die meisten Dinge, deren wirgewahr sind, befinden sich im Randbereich des Bewusstseins und nicht in seinem Brennpunkt. Aber was immer für die willentlich gerichtete Aufmerksamkeit verfügbar ist, ist auch das, was wir bewusst erleben. Und trotzdem sind wir, wenn wir die visuelle Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richten, konstitutionell unfähig, die früheren Verarbeitungsstufen wahrzunehmen. »Genauer hinschauen« hilft einfach nicht: Wir sind nicht in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf den Konstruktionsvorgang zu richten, der das Modell des Buchs in unseren Gehirnen erzeugt. In Wirklichkeit scheint erhöhte Aufmerksamkeit häufig sogar genau das Gegenteil zu erreichen: Dadurch, dass wir den sinnlich wahrgenommenen Gegenstand jetzt zusätzlich stabilisieren, machen wir ihn noch realer.
    Aus diesem Grund sind auch die Wände des Tunnels für uns undurchdringlich. Selbst wenn wir der Überzeugung sind, dass etwas nur ein inneres Konstrukt ist, können wir es immer nur als gegeben erleben und niemals als konstruiert . Diese Tatsache mag uns durchaus auf der Ebene des Denkens zugänglich sein (weil wir die richtigen Begriffe oder eine korrekte Theorie besitzen), aber sie ist weder für die Aufmerksamkeit noch für die Introspektion verfügbar, und zwar ganz einfach deshalb, weil wir auf der Ebene des subjektiven Erlebens keinen Bezugspunkt »außerhalb« des Tunnels haben. Was immer uns erscheint – wie immer es uns vermittelt ist –, erscheint als die Wirklichkeit.
    Versuchen Sie bitte für einen kurzen Moment, das holistische Erlebnis zu untersuchen, das darin besteht, dass Sie das Buch in Ihrer Hand sehen und gleichzeitig berühren und auch sein Gewicht spüren. Bemühen Sie sich also ernsthaft und nach Kräften, sich des Konstruktionsvorgangs in Ihrem Gehirn bewusst zu werden. Sie werden zwei Dinge feststellen. Erstens gelingt es Ihnen nicht, und zweitens ist die innere Oberfläche des Tunnels nicht zweidimensional: Sie besitzt selbst eine beträchtliche Tiefe und baut sich aus verschiedenen Sinnesqualitäten auf – nicht nur Seh-, Gewichts- und Tastempfindungen, sondern auch Klang, sogar Geruch. Kurzum, der Tunnel hat eine hochdimensionale, multimodale innere Oberfläche. All das trägt dazu bei, dass Sie die Wände des Tunnels nicht als eine innereOberfläche erkennen können; das Ganze gleicht einfach keiner anderen Tunnelerfahrung, die Sie jemals gehabt haben.
    Warum sind die Wände der neurophänomenologischen Höhle so undurchdringlich? Eine Antwort besteht darin, dass die innere Oberfläche der Höhle, um ihre Funktion zu erfüllen, geschlossen und vollkommen realistisch sein muss (wie der Desktop der graphischen Benutzeroberfläche Ihres Computers). Sie funktioniert wie ein dynamischer Filter. Stellen Sie sich vor, es würde Ihnen tatsächlich gelingen, sich introspektiv immer tieferer und früherer Phasen der Informationsverarbeitung bewusst zu werden, während Sie das Buch in Ihrer Hand betrachten. Was würde geschehen? Die Repräsentation wäre dann nicht mehr durchsichtig, aber sie wäre immer noch innerhalb des Tunnels. Eine Flut von miteinander wechselwirkenden Mustern würde plötzlich auf Sie einströmen. Es gäbe einen Ansturm alternativer Interpretationen, und eine Vielzahl intensiv

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