Der Ego-Tunnel
unaussprechlich war, in eine öffentliche Eigenschaft zu verwandeln, über die sie jetzt mit Hilfe des Vokabulars der Hirnforschung kommunizieren könnten. Sie hätten das Gefühl, dass dies nicht das ist, was sie am Anfang wissen wollten. Wichtiger noch, vielleicht würden sie befürchten, dass wir auf unserem Weg zu einer Lösung des Problems etwas Tieferes verloren hätten – eben genau die erkenntnistheoretische Autorität über unser eigenes Bewusstsein. Theorien des Bewusstseins haben auch psychologische und kulturelle Konsequenzen. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.
Das Evolutions-Problem:
Hätte all das nicht im Dunkeln geschehen können?
Das Evolutions-Problem ist eines der schwierigsten Probleme für eine Theorie des Bewusstseins. Warum und in welchem Sinn war es überhaupt notwendig, dass sich so etwas wie Bewusstsein in den Nervensystemen von Tieren entwickelte? Hätte die Evolution nicht stattdessen Zombies hervorbringen können? Hier lautet die Antwort gleichzeitig ja und nein.
Wie ich in der Einleitung gesagt habe, ist das bewusste Erlebenkein Alles-oder-Nichts-Phänomen. Es tritt in vielen verschiedenen Schattierungen und Ausprägungen auf. Es gibt eine lange Geschichte des Bewusstseins auf diesem Planeten. Wir besitzen starke, in dieselbe Richtung weisende Belege dafür, dass zumindest alle warmblütigen Wirbeltiere auf der Erde (und wahrscheinlich eine ganze Reihe anderer Lebewesen) phänomenales Erleben besitzen. Die grundlegenden Merkmale des sinnlichen Bewusstseins sind bei den Säugetieren vorhanden, erhalten sich auf der Ebene ihrer Gehirne und weisen aufgrund der gemeinsamen Vorfahren starke Homologien auf. Sie mögen keine Sprache besitzen und nicht zum begrifflichen Denken in der Lage sein, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie alle Empfindungen und Gefühle haben. Sie sind eindeutig in der Lage, Schmerz und Leid zu empfinden. Da sie selbst aber darüber zumindest sprachlich keine Auskunft geben können, ist es fast unmöglich, diese Frage gründlicher zu untersuchen. Deshalb müssen wir zuerst verstehen, wie Homo sapiens es geschafft hat – sowohl im Verlauf der biologischen Geschichte als auch in der individuellen Säuglingsentwicklung –, die faszinierende Eigenschaft zu erwerben, die darin besteht, dass wir unser subjektives Leben erfolgreich innerhalb des Ego-Tunnels leben und uns dieser Tatsache nicht bewusst sind.
Zunächst dürfen wir nicht vergessen, dass die Evolution von Zufallsereignissen angetrieben wird, dass sie kein Ziel verfolgt oder eine Richtung besitzt und dass sie das, was uns heute als eine kontinuierliche Optimierung von Nervensystemen erscheint, in einem blinden Vorgang von Variation des Erbguts und Selektion durch die Umwelt geleistet hat. Es ist falsch, anzunehmen, dass die Evolution Bewusstsein erfinden musste – im Prinzip hätte es auch ein nutzloses Nebenprodukt sein können. Zu keinem Zeitpunkt gab es so etwas wie eine Notwendigkeit. Nicht alles ist eine Adaption, und sogar Adaptionen beruhen nicht auf optimalen Entwürfen, weil die natürliche Selektion überhaupt nur auf das einwirken kann, was bereits vorhanden ist. Andere Pfade und andere Lösungen waren und bleiben immer möglich. Trotzdem ist mehr als deutlich, dass viel von dem, was in unseren Gehirnen und denen unserer Vorfahren geschehen ist, adaptiv war und einen Wert im Kampf ums Überleben besessen hat.
Heute gibt es bereits eine lange Liste mit potenziellen Kandidaten für die Funktion von Bewusstsein: Zu ihnen gehören das Auftreten von intrinsisch motivierenden Zuständen, die Verbesserung der sozialen Koordination, eine Strategie zur Verbesserung der inneren Selektion und internen Ressourcenverteilung in Gehirnen, die zu kompliziert geworden waren, um sich selbst noch erfolgreich zu regulieren, die ständige Modifikation und Anpassung von Zielhierarchien und Handlungsplänen für längere Zeiträume, das Abrufen von kompletten Episoden aus dem Langzeitgedächtnis, die Konstruktion speicherbarer Repräsentationen, gesteigerte Flexibilität und Verfeinerung der Verhaltenskontrolle, das Verstehen der geistigen Zustände von Artgenossen und die Vorhersage ihres Verhaltens in sozialen Interaktionen, die Auflösung von Konflikten und inneren Problemen, die durch »festgefahrene« geistige Verarbeitungsvorgänge entstehen können, die Erzeugung einer dichten und integrierten Darstellung der Wirklichkeit als einer Ganzheit, das Setzen eines globalen Kontexts, Lernvorgänge, die nur
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