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Der Ego-Tunnel

Der Ego-Tunnel

Titel: Der Ego-Tunnel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Metzinger
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einen einzigen Schritt benötigen, und so weiter. Es fällt schwer, zu glauben, dass Bewusstsein tatsächlich keine dieser Funktionen haben könnte. Lassen Sie uns hier aber nur ein Beispiel betrachten.
    Unter vielen führenden Bewusstseinsforschern herrscht Konsens darüber, dass mindestens eine der zentralen Funktionen des phänomenalen Erlebens darin besteht, Informationen für einen Organismus »global verfügbar« zu machen. Bernard Baars’ Metapher vom globalen Arbeitsspeicher besitzt auch einen funktionalen Aspekt: Einfach gesagt, behauptet diese Theorie, dass bewusste Information genau die Teilmenge gerade im Gehirn aktiver Informationen ist, die eine ständige Überwachung erfordert, weil nicht klar ist, welche unserer geistigen Fähigkeiten wir als Nächstes benötigen werden, um auf diese Information zuzugreifen. Werden wir unsere konzentrierte Aufmerksamkeit darauf richten müssen? Werden wir einen Begriff davon bilden, darüber nachdenken, anderen Menschen darüber berichten müssen? Werden wir eine flexible Verhaltensantwort entwickeln müssen – eine, die wir ausgewählt und gegenüber möglichen Alternativen abgewogen haben? Werden wir diese Information mitdem episodischen Gedächtnis verknüpfen müssen, vielleicht um sie mit Dingen zu vergleichen, die wir schon früher gesehen oder gehört haben? Zu Baars’ Idee gehört also unter anderem, dass man sich einer Sache nur dann bewusst wird, wenn man nicht weiß, welche der Instrumente in seinem geistigen Werkzeugkasten man als Nächstes einsetzen muss.
    Eine interessante Beobachtung ist, dass wir immer dann bewusst sind, wenn wir eine schwierige Aufgabe – wie zum Beispiel das Binden von Schuhen oder das Fahrradfahren – zum ersten Mal erlernen. Der Vorgang des Einübens ist immer bewusst. Er erfordert Aufmerksamkeit und greift auf viele unserer Ressourcen zu. Sobald wir jedoch das Binden der Schnürsenkel oder das Fahrradfahren vollständig beherrschen, vergessen wir alles, was mit dem Lernvorgang zu tun hat – dies geht so weit, dass wir später Schwierigkeiten haben, dieselbe Fähigkeit unseren Kindern beizubringen. Bald sinkt sie unter die Schwelle des Bewusstseins und wird zu einer schnellen und wirkungsvollen Subroutine. Wann immer jedoch das System mit einer Herausforderung durch einen neuen Kontext oder mit einer neuen Reizsituation konfrontiert wird, wird auch der globale Arbeitsspeicher aktiviert, und es entsteht eine Repräsentation im Bewusstsein. Das ist auch genau das Stadium, an dem Sie sich des Vorgangs bewusst werden.
    Natürlich brauchten wir eine wesentlich differenziertere Theorie, weil es verschiedene Grade der Verfügbarkeit gibt. Manche Dinge im Leben, zum Beispiel der unaussprechliche feine Farbton von Grün Nr. 24, sind für die Aufmerksamkeit verfügbar, nicht aber für das Gedächtnis oder das begriffliche Denken. Andere Dinge wiederum sind für die selektive Bewegungskontrolle verfügbar, werden aber so schnell erfasst, dass wir unsere Aufmerksamkeit eigentlich gar nicht mehr auf sie richten können: Wenn Hundertmetersprinter warteten, bis sie ein bewusstes Hörerlebnis des Startschusses hätten, wäre das Rennen längst verloren; glücklicherweise hört ihr Körper den Schuss, bevor sie selbst es tun. Es gibt viele Abstufungen im bewussten Erleben, und je genauer die Wissenschaft hinschaut, desto verschwommener wird die Grenze zwischen bewusster und unbewusster Verarbeitung.Aber der allgemeine Begriff der globalen Verfügbarkeit erlaubt uns, zumindest den Anfang einer überzeugenden Geschichte über die Evolution des Bewusstseins zu erzählen. Hier ist mein Beitrag zu dieser Geschichte: Bewusstsein ist eine neue Art von Organ .
    Die Evolution hat biologische Organismen mit zwei verschiedenen Arten von Organen hervorgebracht. Die eine Art, wie zum Beispiel die Leber oder das Herz, bildet einen festen Bestandteil der »Hardware« des Organismus. Die entsprechenden Organe sind dauerhaft realisiert. Dann gibt es »virtuelle Organe«, wie zum Beispiel Gefühle (Wut, Ärger, sexuelles Verlangen oder Eifersucht) oder auch das phänomenale Erleben, das entsteht, wenn wir farbige Gegenstände sehen, Musik hören oder wenn eine bestimmte Episode aus dem Gedächtnis in uns aufsteigt. Die Antwort unseres Immunsystems auf Krankheitserreger, die ebenfalls nur im Bedarfsfall realisiert wird, ist ein anderes Beispiel für ein virtuelles Organ: Für eine gewisse Zeit erzeugt sie sehr spezielle kausale Eigenschaften, sie besitzt eine

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