Der Ego-Tunnel
innerhalb eines Gegenwartsfensters global verfügbar machen. Sie ermöglichen es uns, uns neuer Tatsachen innerhalb eines einheitlichen psychologischen Moments bewusst zu werden. Es muss eindeutig ein wesentlicher Vorteil gewesen sein, alle Instrumente aus unserem geistigen Werkzeugkasten gleichzeitig einsetzen zu können, um auf immer neue Klassen von Tatsachen zu reagieren. Für jedes neue virtuelle Organ, für jede neue Sinneserfahrung und jeden neuen bewussten Gedanken mussten wir einen metabolischen Preis zahlen, denn es war teuer, sie zu aktivieren, und wenn es auch jeweils nur für ein paar Sekunden oder Minuten notwendig war. Weil sie sich aber bezahlt gemacht haben, indem sie dem Gehirn zusätzliche Glukose verschafften und dem Organismus mehr Sicherheit, bessere Überlebenschancen und einen höheren Fortpflanzungserfolg brachten, haben sie sich über Populationen hinweg verbreitet und bis zum heutigen Tage erhalten. Sie erlaubten uns, zwischen Essbarem und Nichtessbarem zu unterscheiden, neue Nahrungsquellen zu erschließen und unsere Angriffe auf Beute vorher sorgfältig zu planen. Sie erlaubten uns, die Gedanken unserer Mitmenschen zu lesen und auf wirksamere Weise mit unseren Jagdgenossen zusammenzuarbeiten. Schließlich erlaubten sie uns, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen.
Das vorläufige Fazit lautet also: Eine Welt im Gehirn eines Organismus erscheinen zu lassen war eine neue komputationale Strategie. Indem wir die gefährliche Gegenwart als real auszeichneten, verhinderten wir, dass wir uns in unseren eigenen Erinnerungen oder Phantasien verlieren. Das Auszeichnen der Gegenwart ermöglicht es einem bewussten Organismus, andere oder wirkungsvollere Fluchtmöglichkeiten zu planen oder seine Beute noch besser zu täuschen beziehungsweise sich noch raffinierter an sie anzupirschen, nämlich, indem er innere Probeläufe des Zielverhaltens mit Merkmalen einer gegebenen Welt vergleicht. Wenn man ein transparentes Weltmodell besitzt, kann man zum ersten Mal das, was tatsächlich ist, mit dem vergleichen, was nur möglich ist. Die im Bewusstsein als real dargestellte Welt dient als Hintergrund und fester Bezugsrahmen für alle simulierten möglichen Welten, die man in seinem eigenen Geist entworfen hat. Höhere Intelligenz besteht nämlich nicht nur darin, Offline -Zustände zu besitzen, mit deren Hilfe man potenzielle Bedrohungen oder wünschenswerte Endergebnisse simulieren kann, sondern auch darin, die wirkliche Situation mit einer ganzen Anzahl von möglichen Zielzuständen zu vergleichen. Nachdem man im eigenen Geist einen Pfad von der wirklichen Welt in die wünschenswerteste mögliche Welt gefunden hat, kann man beginnen zu handeln.
Man übersieht leicht die kausale Relevanz dieses allerersten evolutionären Schritts. Die Darstellung von »Tatsächlichkeit« war das grundlegende komputationale Ziel des bewussten Erlebens. Es ist die eine notwendige funktionale Eigenschaft, auf der alles andere beruht. Wir können es ganz einfach »Wirklichkeitserzeugung« nennen: Sie erlaubte Tieren, explizit die Tatsache darzustellen, dass etwas tatsächlich der Fall ist . Ein transparentes Wirklichkeitsmodell lässt uns entdecken, dass da draußen wirklich etwas ist, und indem es unser inneres Porträt der Welt mit dem subjektiven Jetzt integriert, gestattet es uns, die Tatsache zu erfassen, dass die Welt gegenwärtig ist. Dieser Schritt eröffnete eine ganz neue Ebene von Komplexität. Der Besitz eines globalen Weltmodells ermöglicht also, Information über die Welt in einer neuen, hochgradig integrierten Art und Weise zu verarbeiten. Jeder bewusste Gedanke, jede körperliche Empfindung,jeder Klang und jedes Seherlebnis, jede Erfahrung des Mitgefühls oder der Anteilnahme an den Zielen eines anderen Menschen macht eine andere Klasse von Tatsachen für jene an den Gesamtkontext angepasste, flexible und selektive Form der Verarbeitung verfügbar, die nur das bewusste Erleben bereitstellen kann. Was immer auf die Ebene der globalen Verfügbarkeit gehoben wird, wird plötzlich flüssiger und empfindlicher für den Gesamtzusammenhang und besitzt nun eine direkte Beziehung zu allen anderen Inhalten unseres bewussten Geistes.
Die Funktionen der globalen Verfügbarkeit können sehr spezifisch sein: Das bewusste Farbensehen liefert uns Informationen über den Nährwert, etwa wenn uns die köstlichen roten Beeren zwischen den grünen Blättern auffallen. Das bewusste Erleben von Empathie gibt uns eine nichtsprachliche
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