Der Ego-Tunnel
bestimmte Funktion und erledigt eine Aufgabe für den Organismus. Wenn die Aufgabe erfüllt ist, verschwindet sie. Virtuelle Organe sind genau wie physische Organe in dem Sinne, dass sie eine spezifische Funktion erfüllen; es sind zusammenhängende Verbände von funktionalen Eigenschaften, die es uns gestatten, etwas Neues zu tun. Obwohl sie ein Teil des Repertoires an Verhaltensweisen auf der Makroebene beobachtbarer Merkmale sind, kann man sie auch als etwas betrachten, das aus Milliarden von konzertierten Mikroereignissen zusammengesetzt ist – aus Immunzellen oder vor sich hin feuernden Nervenzellen. Im Gegensatz zu einer Leber oder einem Herzen werden sie nur vorübergehend realisiert. Was wir subjektiv erleben, sind die inneren Vorgänge, die durch die sich gerade entfaltende Aktivität eines oder mehrerer solcher virtuellen Organe entstehen.
Unsere virtuellen Organe machen uns Information global verfügbar. Sie gestatten uns den Zugriff auf neue Tatsachen und manchmal auch auf vollständig neue Formen des Wissens. Nehmen wir als ein Beispiel die Tatsache, dass Sie jetzt gerade dieses Buch in Ihren Händen halten. Das phänomenale Buch (das heißt das bewusste Buch-Erlebnis) und die phänomenalen Hände (das heißt das bewussteErleben bestimmter Teile des körperlichen Selbst) sind Beispiele für gegenwärtig aktive virtuelle Organe. Die neuronalen Korrelate des Buch-Erlebnisses in Ihrem Gehirn arbeiten für Sie als Objekt-Emulatoren. Sie tun dies, indem sie das Buch, das Sie gerade halten, innerlich noch einmal simulieren – und zwar, ohne dass Sie sich dieser Tatsache bewusst sind. Dasselbe gilt für das bewusste Hand-Erlebnis, das ein Teil der Aktivität des körperlichen Subjekt-Emulators ist. Es gibt also ein Als-ob-Selbst und ein Als-ob-Buch, ein simuliertes Subjekt plus ein simuliertes Objekt. Das Gehirn macht Ihnen noch viele andere Tatsachen verfügbar: die Tatsache, dass dieses Buch existiert, dass es bestimmte gleichbleibende Oberflächeneigenschaften besitzt, ein bestimmtes Gewicht und so weiter. In dem Moment, in dem all diese Informationen über die Existenz und die Eigenschaften des Buchs bewusst werden, sind sie für die Aufmerksamkeitslenkung, für die weitere kognitive Verarbeitung und für flexible Verhaltensreaktionen verfügbar.
Langsam können wir nun sehen, worin die zentrale evolutionäre Funktion des Bewusstseins bestanden haben muss: Es macht bestimmte Klassen von Tatsachen für einen Organismus global verfügbar und erlaubt ihm dadurch, seine Aufmerksamkeit auf sie zu richten, über sie nachzudenken und in einer flexiblen Weise, die automatisch den Gesamtkontext berücksichtigt, auf sie zu reagieren. Nur wenn uns überhaupt eine Welt erscheint , können wir schrittweise die Tatsache erfassen, dass eine äußere Wirklichkeit existiert. Dies wiederum ist eine notwendige Vorbedingung dafür, die Tatsache zu entdecken, dass wir selbst ebenfalls existieren. Nur wenn man einen Bewusstseins-Tunnel hat, kann man erkennen, dass man Teil dieser Wirklichkeit und gerade jetzt in ihr anwesend ist.
Sobald diese globale Bühne – der Bewusstseins-Tunnel – sich stabilisiert hat, können außerdem viele andere Arten von virtuellen Organen erzeugt werden und ihren Tanz in unserem Nervensystem beginnen. Der Tunnel ist das, was alles zusammenhält. Innerhalb des Tunnels beginnt sich die Choreographie unseres subjektiven Lebens zu entfalten. Wir können bewusste Gefühle erleben und dadurch entdecken, dass wir bestimmte Ziele und Bedürfnisse haben. Wir könnenuns selbst als Denker von Gedanken wahrnehmen. Wir können entdecken, dass es andere Menschen – andere Handlungssubjekte – in der Umwelt gibt, und verstehen, in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen. Solange es nicht einen ganz bestimmten Typ von bewusstem Erlebnis gibt, der diese Tatsache für uns global verfügbar macht, können wir nicht mit unseren Mitmenschen kooperieren, wir können sie nicht selektiv imitieren oder auf eine andere Weise von ihnen lernen. Wenn wir besonders schlau sind, lernen wir unter Umständen sogar, wie wir ihr Verhalten kontrollieren können, indem wir ihre Bewusstseinszustände kontrollieren. Falls es uns gelingt, sie erfolgreich zu täuschen – wenn wir es zum Beispiel schaffen, eine falsche Überzeugung in ihrem Geist einzupflanzen –, dann haben wir ein virtuelles Organ in einem anderen Gehirn aktiviert.
Phänomenale Zustände sind neurokomputationale Organe, die überlebenswichtige Informationen
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