Der Ego-Tunnel
introspektiven Identitätskriterien besitzen. Unser Wahrnehmungsgedächtnis ist extrem begrenzt. Wenn man Grün Nr. 24 und Grün Nr. 25 gleichzeitig wahrnimmt, kann man den Unterschied zwischen ihnen sehen und bewusst erleben, aber wir sind unfähig, die Selbigkeit von Grün Nr. 25 über die Zeit hinweg im Bewusstsein darzustellen. Natürlich mag es uns so erscheinen , als ob es sich um denselben Farbton von Grün Nr. 25 handelt, aber das subjektive Gewissheitserlebnis, das mit dieser introspektiven Überzeugung einhergeht, ist selbst nur eine Erscheinung und keine Form von Wissen. Darum finden wir hier auf einfache und wohldefinierte Weise ein Element der Unaussprechlichkeit schon im sinnlichen Bewusstsein. Wir können eine unfassbare Anzahl von Dingen in all ihrem herrlichen phänomenologischen Reichtum, ihrer sinnlichen Tiefe und ihrer Subtilität erleben, ohne dabei die Mittel zu besitzen, sie zuverlässig zu identifizieren. Wenn das aber so ist, dann können wir eigentlich nicht über sie sprechen. Manche Experten – Weinkenner, Musiker oder Parfümdesigner – können ihre Sinnesorgane trainieren und ein viel feineresUnterscheidungsvermögen entwickeln, und sie können auch besondere technische Begriffe bilden, um ihr introspektives Erleben zu beschreiben. So beschreiben echte Kenner den Geschmack eines Weins als »halbtrocken«, »rassig« oder »abgerundet«, als »erdig«, »holzig« oder »brandig«. Nichtsdestotrotz werden auch Experten der Introspektion niemals in der Lage sein, den unfassbar großen Raum an unaussprechlichen Nuancen erschöpfend zu beschreiben. Und auch gewöhnliche Menschen können eine Farbprobe nicht mit Sicherheit genau jenem wunderschönen grünen Farbton zuordnen, den sie gestern gesehen haben. Die individuelle Schattierung, der Farbton selbst, ist aber in keiner Weise vage oder unterbestimmt; er ist das, was ein Naturwissenschaftler als einen »maximal determinaten Wert« bezeichnen würde – ein konkreter und absolut eindeutiger Inhalt des Bewusstseins.
Als Philosoph mag ich solche Forschungsergebnisse, weil sie auf elegante Weise demonstrieren, wie subtil und fein der Fluss bewussten Erlebens ist. Sie zeigen, dass es unendlich viele Dinge im Leben gibt, die man nur ergründen kann, indem man sich dem Erleben selbst ausliefert, dass es eine Tiefendimension in der reinen Wahrnehmung gibt, die sich weder durch Denken noch durch Sprache erfassen und durchdringen oder vollständig erobern lässt. Mir gefällt auch die Einsicht, dass es Qualia – im klassischen Sinne des Begriffs, so wie er durch den Philosophen Clarence Irving Lewis eingeführt wurde – niemals wirklich gegeben hat, ein Punkt, auf den auch der vielleicht berühmteste lebende Bewusstseinsphilosoph, Daniel C. Dennett, mit großem Nachdruck hingewiesen hat. 16 »Qualia« ist ein Begriff, den Philosophen für einfache Qualitäten des sinnlichen Erlebens benutzen, wie etwa die Röte innerhalb eines Roterlebnisses, die Schmerzhaftigkeit von Schmerzen oder die Süße eines Aprikosenkuchens. In der Regel ging man davon aus, dass Qualia wiedererkennbare innere Essenzen sind, irreduzible einfache Eigenschaften im Bewusstsein – die Atome des Erlebens. Jetzt zeigt sich jedoch auf wunderbare Weise, dass diese traditionelle Geschichte viel zu einfach war, denn die empirische Bewusstseinsforschung demonstriert uns die Flüssigkeit des subjektiven Erlebens, seine Einzigartigkeit, dasunersetzliche Wesen des einzelnen Moments der Aufmerksamkeit. Es gibt keine Atome, keine festen kleinen Bausteine des Bewusstseins.
Das Unaussprechlichkeitsproblem ist eine ernste Herausforderung für jede wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins – zumindest jedoch für die Suche nach all seinen neuronalen Korrelaten. Man kann das Problem sehr einfach formulieren: Um das minimal hinreichende neuronale Korrelat von Grün Nr. 24 im Gehirn dingfest zu machen, muss man annehmen, dass die verbalen Berichte der jeweiligen Versuchspersonen zuverlässig sind, dass sie also den phänomenalen Aspekt von Grün Nr. 24 über die Zeit hinweg korrekt identifizieren können, bei wiederholten Versuchen im Rahmen eines kontrollierten experimentellen Aufbaus. Sie müssen in der Lage sein, introspektiv die subjektiv erlebte »So-heit« dieses besonderen grünen Farbtons wiederzuerkennen – und bereits das scheint unmöglich zu sein.
Das Unaussprechlichkeitsproblem ergibt sich für die einfachsten Formen des sensorischen Gewahrseins, für die feinsten Nuancen
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