Der Ego-Tunnel
Hochfrequenz-Oszillationen nachweisen – was darauf hindeutet, dass irgendeine Reizverarbeitung stattfindet –, aber dies sind lokale Prozesse, die sich nicht zu global synchronisierten Mustern verbinden. Das legt die Vermutung nahe, dass Zugang zu Bewusstsein erfordert, dass eine hinreichend große Zahl von Verarbeitungsarealen – oder, anders ausgedrückt, eine hinreichende Zahlverteilter Berechnungen – durch Synchronisierung gebunden wird und dass diese kohärenten Zustände über hinreichend lange Zeiträume aufrechterhalten werden.
Metzinger : Dies könnte aus philosophischer Perspektive interessant sein. Kann man damit im Idealfall nicht die Einheit des Bewusstseins erklären?
Singer : Ja, dies würde auch die Einheit des Bewusstseins erklären – die Tatsache, dass die Inhalte des phänomenalen Bewusstseins, obgleich sie sich von einem Augenblick zum nächsten verändern, immer als kohärent erlebt werden. Zugegebenermaßen ist das Argument etwas zirkulär. Aber wenn es eine notwendige Voraussetzung für den Zugang zum Bewusstsein ist, dass die Aktivität über eine hinreichende Zahl von Verarbeitungsregionen synchronisiert wird, und wenn Synchronisierung äquivalent mit semantischer Bindung ist, mit der Integration von Bedeutung, dann folgt daraus, dass die Bewusstseinsinhalte nur kohärent sein können.
Metzinger : Wenn sich das, was Sie hier beschreiben, als zutreffend erweist, was muss dann noch gezeigt werden?
Singer : Selbst wenn sich das vorgeschlagene Szenario als wahr erweist, bleibt die Frage, ob wir damit zu einer befriedigenden Beschreibung der neuronalen Korrelate des Bewusstseins gelangt sind. Was gewinnen wir, wenn wir sagen, dass das neuronale Korrelat von Bewusstsein ein besonderer, metastabiler Zustand eines sehr komplexen, hochdynamischen, nichtstationären, verteilten Systems ist – ein Zustand, der sich durch Sequenzen sich ständig wandelnder Muster exakt synchronisierter Oszillationen auszeichnet? Weitere Forschungen werden zu genaueren Beschreibungen solcher Zustände führen – aber dabei wird es sich vermutlich um abstrakte, mathematische Beschreibungen von Zustandsvektoren handeln. Irgendwann werden fortgeschrittene analytische Verfahren vielleicht den semantischen Gehalt enthüllen, die tatsächliche Bedeutung solcher Zustandsvektoren, und es könnte möglich werden, diese Zustände zu beeinflussen und dadurch die Bewusstseinsinhalte zu verändern; dies würde einen kausalen Beweis für den Zusammenhang zwischen neuronalerAktivität und den Inhalten phänomenalen Bewusstseins liefern. Vermutlich werden wir bei unseren Bemühungen, die neuronalen Korrelate von Bewusstsein zu identifizieren, allerdings nicht über diese Näherung hinausgelangen. Wie diese neuronalen Aktivierungsmuster schließlich subjektive Gefühle, Emotionen und so weiter hervorbringen, wird vermutlich noch für einige Zeit ein Rätsel bleiben, selbst wenn uns präzise Beschreibungen neuronaler Zustände, die Bewusstsein entsprechen, gelingen sollten.
Metzinger : Was sind die vordringlichsten Fragen in Ihrem Fachgebiet, und wohin entwickelt sich Ihre Disziplin?
Singer : Die schwierigsten Fragen betreffen die Codierung von Information in verteilten neuronalen Netzwerken und die Entstehung subjektiver Gefühle, sogenannter Qualia, aus verteilten neuronalen Aktivitäten. Es wird allgemein angenommen, dass Neuronen dadurch Informationen übermitteln, dass sie ihre Entladungsrate modulieren – das heißt, indem sie durch Steigerungen ihrer Feuergeschwindigkeit die Präsenz von Inhalten signalisieren, für die sie spezialisiert sind. Es gibt jedoch immer mehr Hinweise darauf, dass komplexe kognitive Inhalte durch die Aktivität verteilter Neuronenverbände codiert werden und dass die Information in den Beziehungen zwischen den Amplituden und der Dauer der Entladungen enthalten ist. Die große Herausforderung für zukünftige Arbeiten besteht darin, die in diesen hochdimensionalen Zeitreihen codierten Informationen zu extrahieren. Dies erfordert gleichzeitige Ableitungen von einer großen Anzahl von Neuronen und die Identifikation der relevanten räumlichen und zeitlichen Muster. Es ist nach wie vor unklar, welche Aspekte der großen Zahl möglicher Muster das Nervensystem nutzt, um Information zu codieren, so dass die Suche nach diesen Mustern die Entwicklung neuer und hochkomplexer mathematischer Suchalgorithmen erfordern wird. Folglich werden wir ein enge Zusammenarbeit zwischen Experimentatoren und
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