Der Ego-Tunnel
das Gehirn besitzt nicht ein einzelnes Konvergenzzentrum, in dem die Ergebnisse dieser parallelen Rechenvorgänge in kohärenter Weise ausgewertet werden könnten. Die verschiedenen Verarbeitungsmodule sind miteinander verschaltet, in einem überaus dichten und komplexen Netzwerk reziproker Verbindungen, und diese scheinen mit Hilfe starker Mechanismen der Selbstorganisation global geordnete Zustände hervorzubringen. Daraus folgt, dass Repräsentationen komplexer kognitiver Inhalte – Wahrnehmungsobjekte, Gedanken, Handlungspläne, reaktivierte Erinnerungen – ebenfalls eine verteilte Struktur besitzen müssen. Dies erfordert, dass Neuronen, die an einer verteilten Repräsentation eines bestimmten Typs von Inhaltbeteiligt sind, parallel zwei Nachrichten übermitteln: Erstens, sie müssen signalisieren, ob die Eigenschaft, auf die sie abgestimmt sind, präsent ist; zweitens, sie müssen anzeigen, mit welchen der vielen anderen Neuronen sie bei der Bildung einer distribuierten Repräsentation zusammenarbeiten. Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Neuronen die Präsenz der Eigenschaft, die sie codieren, dadurch signalisieren, dass sie ihre Entladungsfrequenz erhöhen; weniger Einvernehmen besteht darüber, wie Neuronen signalisieren, mit welchen anderen Neuronen sie zusammenwirken.
Metzinger : Was sind die Randbedingungen für eine solche Signalisierung?
Singer : Da sich die Repräsentationen kognitiver Inhalte schnell verändern können, müssen sie mit einer sehr hohen zeitlichen Auflösung entschlüsselbar sein. Wir haben die Hypothese aufgestellt, dass die präzise Synchronisierung der Entladungen der einzelnen Neuronen die Signatur ist, die die Relation zwischen den Neuronen definiert.
Metzinger : Aber wieso gerade die Synchronisierung?
Singer : Die präzise Synchronisierung steigert die Wirkung neuronaler Entladungen und fördert die weitere gemeinsame Verarbeitung der synchronisierten Nachrichten. Weitere Befunde deuten darauf hin, dass sich solche Synchronisierungen am besten erreichen lassen, wenn sich Neuronen in rhythmische, oszillatorische Entladungsmuster einschwingen, weil oszillatorische Prozesse leichter synchronisiert werden können als zeitlich unstrukturierte Aktivierungsfolgen.
Metzinger : Dann ist das Ganze nicht bloß eine Hypothese, sondern es gibt experimentelle Befunde, die diese Hypothese erhärten.
Singer : Seitdem man vor über zehn Jahren synchronisierte oszillatorische Entladungen im Sehkortex entdeckte, untermauern immer mehr Ergebnisse die Hypothese, dass die Synchronisierung oszillatorischer Aktivität der Mechanismus für die Bindung distribuierter beziehungsweise verteilter Prozesse im Gehirn sein könnte – wohingegen die relevanten Oszillationsfrequenzen jenach Struktur voneinander abweichen und in der Großhirnrinde für gewöhnlich den Bereich von Beta- und Gamma-Oszillationen abdecken: 20 bis 80 Hertz. Besonders interessant werden die Synchronisierungsphänomene im gegenwärtigen Kontext dadurch, dass sie sich in Verbindung mit einer Reihe von Funktionen ereignen, die für bewusstes Erleben von Bedeutung sind.
Metzinger : Welche Funktionen sind das?
Singer : Diese Oszillationen ereignen sich während der Codierung von Wahrnehmungsobjekten, wenn kohärente Repräsentationen der verschiedenen Merkmale dieser Objekte gebildet werden müssen. Die Oszillationen werden durchgängig beobachtet, wenn Versuchspersonen ihre Aufmerksamkeit auf ein Objekt richten und Informationen darüber im Arbeitsgedächtnis behalten. Und schließlich sind die Oszillationen ein typisches Korrelat bewusster Wahrnehmung.
Metzinger : Wie ist die empirische Datenlage hier?
Singer : In einem Test, in dem Versuchspersonen Reizen ausgesetzt werden, die durch Rauschen beeinträchtigt werden, so dass die Stimuli nur in 50 Prozent der Fälle bewusst wahrgenommen werden, kann man die Hirnaktivität untersuchen, die selektiv mit bewusstem Erleben verbunden ist. Da die physikalischen Eigenschaften der Stimuli konstant bleiben, kann man einfach die Hirnsignale in den Fällen, in denen die Probanden die Reize bewusst wahrnehmen, mit den Fällen vergleichen, in denen sie dies nicht tun. Untersuchungen zeigen, dass bei bewusster Wahrnehmung weit verteilte Regionen der Großhirnrinde vorübergehend exakt synchronisierte Hochfrequenz-Oszillationen aufweisen. Wenn die Stimuli nicht bewusst wahrgenommen werden, lassen sich in den verschiedenen Verarbeitungsregionen zwar ebenfalls
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